Ich hatte nicht vorgehabt, sie umzubringen. Sie geriet in Panik und versuchte, aus dem Haus zu rennen, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr eine zu verpassen. Sie schlug hart auf dem Boden auf, aber ich dachte nicht, dass mein Schlag sie umgebracht hatte. Vielleicht hatte sie ein schwaches Herz oder so. Jetzt, wo sie tot war, wirkte ihr Leben mit all dem dicken Make-up und den goldenen Armreifen wie eine elende Zeitverschwendung.
Es war Kendalls hintere rechte Hosentasche, in der ich einen Zettel fand. Darauf waren in seiner Handschrift eine Reihe von Namen notiert. Ich kannte keinen davon. Alle Namen waren durchgestrichen, bis auf den letzten: R. Martin. Sagte mir gar nichts. Martin war ein gebräuchlicher Name. Weiter fand ich nichts.
Ich durchsuchte noch einmal das Haus, versuchte zu erraten, wo Kendall seine wichtigen Informationen verstecken würde. Wäre ich nicht im vorderen Schlafzimmer gewesen, hätte ich wohl die Scheinwerfer nicht bemerkt, als sie in die Einfahrt bogen. Ich ließ die Schublade fallen, die ich in den Händen hielt, und lief zum Fenster. Unten hielt ein schwarzer Mercedes hinter Kendalls Wagen und versperrte die Zufahrt. Drei Männer sprangen aus dem Auto. Einer blickte hinauf und ich sah ein langes, dünnes, weißes Gesicht, das mich anstarrte. Die kleinen schwarzen Augen, der kleine Mund und die scharfen Wangenknochen ließen das Gesicht maskenhaft wirken. Es war ein fein geschnittenes Gesicht, reizend auf seine Art. Es gehörte einem Mann, den ich kannte, und an dem war nichts Reizendes. Ich kannte ihn von früher. Sein Name war Kenny Paget. Damals arbeitete er für einen Mann namens Frank Marriot, Zuhälter und Pornograf, einer der größten in London. Paget war sein Mann fürs Grobe. Wir waren uns ein paar Mal über den Weg gelaufen. Verdammt, was machte der hier? Ich bewegte mich nicht. Er sah weiter in meine Richtung, dann drehte er sich weg, hatte mich in dem abgedunkelten Raum nicht sehen können. Er sagte etwas zu den anderen Männern. Die drei schwärmten aus, zwei gingen zur Vordertür, einer lief um die linke Seite herum. Es läutete.
Zu dem Zeitpunkt, als ich in der Küche ankam, drückte der dritte Mann an der Tür die Türklinke herunter. Ich hatte meinen Wagen oben an der Straße stehen lassen, und ich hatte meine Kanonen in dem Wagen gelassen. Das war dumm. Ich war leichtsinnig gewesen, hatte darauf gebrannt, Kendall zusammenzuschlagen.
Im Schutz der Schatten im hinteren Teil des Hauses lief ich ins Esszimmer. Von dort aus führte eine Balkontür auf die Terrasse. Als ich in der Küche Glas splittern hörte, löste ich die Verriegelung an der Balkontür und schob sie gerade weit genug auf, um mich hindurchzuzwängen. Ich zog die Tür wieder zu, lief um das Haus herum zur Seite und sprang über den Zaun in den Garten von Kendalls Nachbarn. Geduckt bewegte ich mich über die weiche Erde an dem Zaun entlang, bis ich zur Straße kam. Hinter mir hörte ich, wie Kendalls Haustür geöffnet wurde.
»Er ist tot«, sagte ein Mann. »Jemand hat hier rumgewühlt.«
Als die Tür wieder geschlossen wurde, stand ich langsam auf. Paget und seine Männer waren ins Haus gegangen. Ich lief zu meinem Wagen und fuhr davon.
Ich fuhr ziellos durch die Straßen, ohne darüber nachzudenken, wohin ich fuhr. Die Dinge holten mich langsam aber sicher ein. Wenn Cole oder die Bullen mich nicht bereits suchten, würde es nicht mehr lange dauern. Ich war gebrandmarkt. Gerade hatte ich den Mann umgebracht, der meine Verbindung zu der einzigen Art von Arbeit darstellte, der ich in diesen Tagen nachgehen konnte. Aber am schlimmsten war, dass meine Reputation zum Teufel war. Das zählte.
Ich hatte Kendall nie vertraut, aber ich hätte vorsichtiger sein sollen. Ich hatte die Deckung aufgegeben. Kendall war dumm genug gewesen, mich zu verarschen. Und ich war dumm genug gewesen, es mit mir machen zu lassen.
Ich fuhr an den Straßenrand, angelte Kendalls Handy aus der Tasche und tippte Kings Nummer ein.
»Scheiße, wer ist da?«, fragte eine heisere, schlaftrunkene Stimme.
»Joe.«
»Verdammt. Bleib dran.«
Ich hörte Kings Frau fragen, wer dran sei, und King, der ihr sagte, sie solle weiterschlafen. Ich hörte, wie er aus dem Bett stieg, hörte, wie sich eine Tür schloss. Ich behielt die Augen auf der Straße und die Hand an meiner Waffe. Die Straße war wie ausgestorben. Ein näherkommendes Fahrzeug würde sich lange genug vorher ankündigen. Ich war nervös. Ich mochte es nicht, nervös zu sein – das machte mich auch nervös.
»Was ist los?«, fragte King.
»Ich muss jemanden finden.«
»Für wen hältst du mich, die Polizei?«
»Beckett ist abgetaucht. Ich muss ihn finden.«
Er lachte laut auf. »Wirklich? Dann viel Glück.«
»Willst du mir nicht helfen?«
»Worum geht's hier eigentlich, Joe?«
»Er hat Coles Geld.«
»Und schiebt es dir in die Schuhe?«
»Wirst du mir helfen oder nicht?«
»Wenn Beckett sich versteckt hat, werde ich ihn nicht finden. Selbst wenn jemand was weiß, wird man es mir nicht verraten.«
»Sie werden es mir verraten.«
»Okay, meinetwegen, du kannst sie dazu zwingen. Aber dann musst du sie auch gleich umlegen, denn sonst rufen sie Beckett an und er macht sich vom Acker.«
»Ich hab kein Problem damit, sie umzulegen.«
»Nein, natürlich nicht. Aber dann steckst du derbe in der Scheiße.«
Ich steckte jetzt schon derbe in der Scheiße. Was machte da schon noch ein wenig mehr aus?
»Wer könnte etwas wissen?«
»Keine Ahnung. Ich kenne Beckett nicht, hab die Schwuchtel nie gemocht.«
»Du kennst ein paar Typen. Die kennen wiederum ein paar Typen. Ruf sie an, frag herum.«
Er machte eine Pause.
Als King weitersprach, war seine Stimme leiser. »Das könnte ich tun, aber das werde ich nicht. Wenn ich anfange, Fragen zu stellen, macht das die Runde bis zu Cole. Er wird wissen wollen, was ich mit der Sache zu schaffen habe. Sorry, Joe, das ist mir zu gefährlich. Meinst du nicht, dass Cole wissen wird, wenn man fragen muss? Wenn er Beckett noch nicht gefunden hat, werde ich das auch nicht können.«
Er hatte natürlich recht.
»Gib mir einen Namen«, sagte ich. »Niemand wird erfahren, dass er von dir kam. Wenn ich Beckett nicht finde, bin ich erledigt.«
Am anderen Ende der Leitung war es still. Er dachte darüber nach. Seine Loyalität war gespalten. Er kannte mich, und ich galt als jemand, mit dem man gut zusammenarbeiten konnte, verlässlich. Und er hasste Beckett. Ich setzte ihn unter Druck. Hatte keine andere Wahl. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Du solltest untertauchen, Joe. Solange du noch am Leben bist.«
Es war sinnlos. King wurde wegen so etwas nicht rührselig. Wäre ich auch nicht. Ich war kurz davor, aufzulegen, als mir etwas einfiel.
»Kennst du jemanden mit dem Namen Martin?«, fragte ich. »Der Vorname fängt mit einem R an.«
»Martin«, wiederholte King. »Der Name kommt mir bekannt vor. Ray Martin. Lange nichts mehr von ihm gehört.«
»Wieso würde Kendall nach ihm suchen?«
»Mann, woher soll ich das wissen? Frag Kendall.«
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