Andrea Lutz
Begegnung im Bois de Vincennes
...und andere mysteriöse Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Andrea Lutz Begegnung im Bois de Vincennes ...und andere mysteriöse Geschichten Dieses ebook wurde erstellt bei
Begegnung im Bois de Vincennes
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Impressum neobooks
Begegnung im Bois de Vincennes
Nachrichten vom 23.Oktober 2003:
„ Gestern ist unsere älteste Mitbewohnerin, Marieke Wijnbracht im Alter von 102 Jahren friedlich eingeschlafen.
Die Trauerfeier findet heute Abend um 18:00 Uhr in der Kapelle statt.“
Am Morgen des 24.Oktobers entfernte Lucia unter Anderem auch diese Mitteilung vom schwarzen Brett im Eingangsbereich des Seniorenwohnstiftes Zeezicht. Mit Frau Wijnbracht hatte sie sich gut verstanden. Die alte Dame war immer sehr erfreut und dankbar, wenn Lucia nach ihrer Schicht noch rein privat ein wenig Zeit mit ihr verbrachte. Marieke Wijnbracht hatte weder Angehörige noch Freunde hinterlassen. Ihre Bekanntschaften bezogen sich auf einige Mitbewohner des Stiftes und den alten Bibliothekar Marinus aus Bergen op Zoom, der Gemeinde zu der Zeezicht gehörte.
Eine Woche später war in das verwaiste Zimmer ein neuer Bewohner gezogen. Marieke Wijnbrachts persönlicher Besitz lagerte, in Plastiksäcke und einen großen Karton verpackt auf dem Dachboden. Vielleicht meldete sich doch noch jemand der Ansprüche erhob. Ein Stapel Bücher, der ebenfalls von ihr stammte, lag noch im Eingangsbereich der kleinen, hauseigenen Bibliothek. Lucia machte sich daran den Lesestoff zu sortieren und aufzulisten. Sie war fast fertig, als sie auf ein Buch mit dunkel-blauem Einband ohne Beschriftung stieß. Lucia blätterte es auf:
„Mijn dagboek“
stand handschriftlich auf der ersten Seite geschrieben und weiter:
„Marieke Wijnbracht,
mei 1924 - april 1925“
Frau Wijnbrachts Tagebuch. Das gehörte natürlich nicht in die Bibliothek. Lucia legte es erst mal beiseite und sortierte die anderen Bücher ein. Dann verließ sie die Bibliothek und nahm das Tagebuch mit. Frau Wijnbracht hatte ihr oft Begebenheiten aus ihrem Leben erzählt. Die betrafen aber meist die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. 1924, da war Marieke 23 Jahre. Genauso alt wie Lucia heute. Lucia war gespannt, was sie zu lesen bekommen würde. Noch am selben Abend begann sie in das Leben der Marieke Wijnbracht vor 79 Jahren einzutauchen.
4. mei 1924 - Heute, am Sonntag wurden die 8. Olympischen Sommerspiele in Paris eröffnet und ich war dabei! Amsterdam hatte sich auch beworben und eigentlich hätte mein Herz höher schlagen sollen, würden die Spiele in der Heimat stattfinden. Aber Paris finde ich mittlerweile besser (für mich). Es macht mehr Plaisir nach Paris als nach Amsterdam zu reisen. Gestern bin ich mit Papa hier eingetroffen. Unser Hotel liegt in der Nähe des Place de la Bastille. Das ist bequem. Mit der Hochbahn ist man schnell mitten in der Stadt und auch die Austragungsorte der einzelnen Disziplinen sind sehr gut erreichbar. Papa interessiert sich in der Hauptsache für den Reitsport, der im Stade de Colombes stattfindet. Ich sehe gerne beim Tennis zu, das ist der einzige Sport den ich hin und wieder selbst betreibe. Und tanzen, ja das gefällt mir, leider ist das nicht olympisch!
10. mei1924 – So schnell flieht die Zeit! Jetzt sind wir schon eine Woche in dieser wunderschönen Stadt, an der ich mich nicht satt sehen kann. Ich habe auch schon eine Bekanntschaft geschlossen: Madame Margaretha. Getroffen habe ich sie im Bois de Vincennes. Es war schon spät. Papa hatte ich verpasst und nun war ich auf dem Weg zur Bahnstation um ins Hotel zu fahren. Die Wege im Park sahen in der Nacht so ganz anders aus. Musste ich rechts oder links abbiegen? Ich wusste es nicht. Als ich der Verzweiflung schon ziemlich nahe war, bemerkte ich einen Schatten, der sich mir schnellen Schrittes näherte. Erschrocken wollte ich mich verstecken, man hört ja von allerlei sich umhertreibenden Gesindel, da sah ich, es war eine Dame die da auf mich zukam. Ganz in schwarz gekleidet und tief verschleiert. Als sie direkt vor mir stand, schlug sie den Schleier zurück und lächelte mich an. Ein Hauch von Guerlains Jicky lag in der Luft. Erleichtert, nicht mehr alleine in dieser Dunkelheit zu sein, grüßte ich sie, stellte mich vor und erzählte, welches Missgeschick mir widerfahren war. Wortlos machte sie eine Bewegung auf mich zu und lenkte meinen und ihren Schritt in die Richtung aus der ich gekommen war. Nach einigen Minuten des stummen Nebeneinanders nahmen wir einen schmalen Pfad, der auf einen breiten gepflasterten Weg führte. Nun blieb die Dame stehen, ordnete ihren Schleier und sprach: „Mein Name ist Margaretha. Mein Weg führt mich des Nachts durch diesen Park. Auch ich bin auf der Suche. Komm wieder und begleite mich.“ Ich blickte geradeaus und konnte entfernt das schwache Licht einiger Laternen sehen. Dort musste der Bahnhof sein. Als ich mich bedanken wollte, war die Dame verschwunden.
Papa war heilfroh, dass er mich zwar sehr spät aber unbeschadet in die Arme schließen konnte. Ich schlief nach diesem Erlebnis tief und traumlos.
12. mei 1924 – Papa besuchte gestern Abend die Oper. Gegeben wurde „Pelléas et Mélisande“ von Debussy, soweit mir bekannt war, ein Stück welches 3 Stunden dauert. Ich entschuldigte mich, sagte mir sei nicht wohl, er aber könne unbesorgt ausgehen. Insgeheim wollte ich Margaretha noch einmal treffen. So außergewöhnlich die Begegnung im ersten Moment war, so neugierig war ich darauf, mehr zu erfahren. Ich bestellte mir kurz vor Mitternacht eine Kutsche und gab Anweisung zum Bois de Vincennes zu fahren. Angekommen, gab ich dem Kutscher einige Franc, lieh mir von ihm eine Handlaterne und bat ihn, auf meine Rückkehr zu warten. Ich ging den breiten gepflasterten Weg entlang bis zur ersten Gabelung. Dort leuchtete ich in die Anfänge der abzweigenden Pfade. Nichts zu sehen. Ich ging noch ein Stückchen weiter und da sah ich sie. Margaretha saß auf einer etwas versteckt stehenden Bank unter dem weit ausladend hängenden Gezweig einer Trauerweide. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte nach oben. Trotzdem musste sie mich bemerkt haben, denn sie begann ohne ihre Haltung zu verändern zu sprechen: „Wie schön sie wieder zu sehen Mademoiselle. Ich hatte gehofft ihnen nochmals zu begegnen. Die Nächte hier sind einsam. Ich bin auf der Suche. Kennen sie Luise-Jeanne MacLeod? Sie wird auch Non genannt. Sie müsste in ihrem Alter sein. Haben sie von ihr gehört, sie gesehen?“
Margaretha war aufgestanden und hielt meine Hand. Seltsam erschien es mir, den Händedruck nicht zu spüren. Im gedämpften Licht meiner Handlaterne sah ich sie vor mir stehen. Eine schöne Frau ganz in Schwarz, das dichte dunkle Haar hochgesteckt, gekrönt von einem kleinen Hut, den heute ein kleiner Schleier zierte. Ihre Haut hatte die Farbe von Alabaster, blass und durchscheinend. Der Duft von Jicky umwehte sie auch in dieser Nacht. „Madame“ antwortete ich, „seien sie meiner Hilfe versichert, aber leider kenne ich die gesuchte Person nicht. Ich lebe ja nicht in Paris, sondern in der Nähe von Breda.“
„ Non wohnt auch nicht in Paris“ flüsterte Margaretha, „ihr letzter Aufenthaltsort von dem ich weiß war Velp. Das liegt in der Gegend um Nijmegen.“
„ Es tut mir so leid Madame, ich kann ihnen nicht weiter helfen. Engagieren sie am besten einen Detektiv. Erst kürzlich habe ich einen Roman gelesen, in dem ein solcher eine vermisste Person gefunden hat. Sherlock Holmes lautet sein Name, wobei ich nicht weiß, ob es ihn wirklich gibt.“
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