Vereinige dich ruhig mit dem Perlmuttbaum und erwecke ihn zu neuem Leben. Schenke der Welt ein schöneres Kleid. Welch ein Vergnügen wird es dann erst für mich sein zurückzukehren und alles wieder zu zerstören. Und glaube mir! Ich werde es mit jeder Faser meines Seins genießen“! gellte ER und SEIN abscheuliches, boshaftes Gelächter verfolgte sie jede Nacht.
Aber der Perlmuttbaum lebte!
ER konnte nicht zurückkehren. Aber weshalb dann diese Albträume? Vielleicht eine Warnung vor der Zukunft? Bloß das nicht, dachte Samiras. Dem Perlmuttbaum darf nichts geschehen. Nicht um meinetwillen, aber meines Volkes und der anderen Völker wegen.
„Hallo, schöne Frau“, riss sie Noldikians unangenehme Stimme aus ihren Gedanken. Der bekannteste Magier und Heilkundige der Stadt ließ keine Gelegenheit aus, ihr nachzustellen. Auch jetzt eilte er mit wehendem Umhang auf sie zu.
Unaufgefordert setzte er sich neben sie auf die Bank, von der aus sie Tolkar zugesehen hatte. Bevor sie es verhindern konnte, legte er seine schlaffe weiße Hand auf ihre und schmachtete sie mit seinen hervorstehenden, farblosen Augen an.
„Hast du es dir überlegt?“, fragte er.
Sie hasste es, von ihm geduzt zu werden, konnte ihn jedoch nicht davon abbringen. Sie selbst vermied ihm gegenüber jegliche Vertraulichkeit.
Aber Noldikian war stur. Er nahm ihre abweisende Haltung einfach nicht zur Kenntnis. Er hielt sich für unwiderstehlich, obwohl er vom Alter her ihr Vater hätte sein können. Seit über einem Jahr stellte er ihr nach, obwohl sie keinen Zweifel daran ließ, dass eine Beziehung zwischen ihnen überhaupt nicht in Frage kam. Aber er blieb stur und schlich um ihr Haus.
Und dann hatte sie vor einigen Wochen kleine Stoff- und Holzpuppen sowie andere Fetische dicht beim Haus gefunden. Dinge, mit denen er anscheinend versuchte, sie seinen Wünschen gefügig zu machen und ihren Widerstand zu brechen. Aber entweder war sie gegen derartige Praktiken immun oder seine magischen Fähigkeiten waren weitaus schwächer, als seine Bewunderer glaubten.
Samiras sah zu Tolkar hinüber, der gerade seinen Hammer aus der Hand gelegt hatte, um vom Dach herunterzusteigen. Er wusste, dass sie den Zauberer nicht ausstehen konnte.
„Ich habe weder jetzt, noch in Zukunft die Absicht mich zu binden“, erwiderte sie kühl. „Aber das habe ich mittlerweile ja wohl schon einige hundert Mal gesagt, nicht wahr?“
„Aber, aber meine Liebe. Es ist für eine schöne junge Frau nicht gut allein zu bleiben. Das ist wider die Natur. Frauen sollten ein Heim und Kinder haben.“
„Ich habe ein Heim.“
„Aber keinen Mann, meine Gute. Ich kann dir in jeder Hinsicht eine Menge bieten, Samiras. Und ich kann dich beschützen.“
„Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen. Außerdem kann mich niemand so gut beschützen wie Danina und Tolkar.“
„Eine Bes … äh, Pantherin und ein Troll. Ich bitte dich, meine Liebe. Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
Am liebsten hätte sie dem arroganten Kerl eine reingehauen. „Ich lasse meine Freunde nicht beleidigen, noch dazu auf meinem Grund und Boden“, zischte Samiras wütend.
„Kein Grund sich aufzuregen“, grinste der Zauberer und legte frech den Arm um sie. „Wir werden ein sehr glückliches Paar“, versprach er grinsend und zog sie in seine Arme. Gierig suchten seine Lippen ihren Mund.
Vier Dinge passierten fast gleichzeitig. Samiras Hand zuckte hoch und landete klatschend auf seiner Wange. Tolkar packte ihn am Kragen und Danina schlug ihre Reißzähne in seinen Umhang und zerrte ihn von Samiras weg, während Mawi, das Mauswiesel, ihm kräftig in die Hand biss.
Als Noldikian vor Schmerz kreischte, löste Tolkar seinen Griff und der Zauberer fiel zu Boden. Danina schleifte ihn noch zum Gartentor. Hier ließ sie ihn los und ging zurück zu Samiras, die sie lachend an sich drückte.
Noldikian raffte seine Gewänder zusammen, stand auf und straffte seine hagere Gestalt. Kreidebleich vor Wut drehte er sich zu Samiras um.
„Das wirst du noch bereuen!“, schrie er mit drohend erhobener Faust. „Ich werde dich und diese Brut vom Angesicht der Erde tilgen, du Hexe. Und glaube nur nicht, dass der Perlmuttbaum dich schützen kann. Das kann er mit Sicherheit nicht!“ Mit einem unsagbar hämischen Lachen drehte er sich um und ging davon.
„Er ist gefährlich“, brummte Tolkar. „Von jetzt an lasse ich dich nicht mehr aus den Augen.“
„ Ich auch nicht“, zischte Danina. „ Der Troll hat recht. Irgendetwas Unerfreuliches kommt auf uns zu. Ich weiß bloß noch nicht was.“
„Du hast es auch gespürt?“
„ Natürlich! Was dachtest du denn?“
In dieser Nacht schlief der Perlmuttbaum so tief und so fest wie noch niemals zuvor. Weich wie flaumige Federn war die Stimme, die ihn sanft in den Schlaf wiegte. Und der Perlmuttbaum gab sich ihr vertrauensvoll hin. Er war in Preleida bei seinem Volk, das ihn über alles liebte. Nichts Böses konnte ihm hier geschehen, so dachte er.
Noldikian, der Magier, wischte grinsend seine Hände an einem Tuch ab und warf es ins Gebüsch. Dann raffte er seine Gewänder und eilte davon.
Beschwingten Schrittes eilte Samiras über die saftigen Wiesen zum Perlmuttbaum. Sie liebte diese allmorgendliche Begegnung und das Austauschen ihrer Gedanken.
„Geht es dir gut?“, fragte sie wie jeden Morgen, als sie sich an seinen silberglänzenden Stamm lehnte.
„ Ich habe so tief geschlafen, dass es mir schwer fällt, richtig wach zu werden. Ich fühle mich so matt. Diese wundervolle Stimme muss der Grund dafür sein“, wisperte der Baum.
Samiras Hand strich liebevoll über den glatten Stamm und blickte dabei über sich in das silberne Laub. Wie schön es ist, dachte sie. Zärtlich fuhr sie mit dem Finger über den Rand eines der filigranen Blätter. Dabei drehte es sich um.
„Mein Gott“, flüsterte Samiras und ließ es erschrocken fallen.
„ Was ist?“, fragte der Perlmuttbaum verwundert.
„Dein Laub! Einige deiner Blätter haben sich verfärbt.“
„ Viele?“
„Nein. Aber wie kann das sein?“
„ Ich weiß es nicht, Samiras. Ich weiß nur, dass ich noch niemals so tief schlief wie in der vergangenen Nacht.“
„Du sprachst von einer wundervollen Stimme. Was meintest du damit?“
„ Sie sang mich in den Schlaf. Es war wunderschön und weckte alte Erinnerungen in mir. Ich erwachte erst, als du kamst.“
„Dann hättest du nicht gemerkt, wenn sich dir des Nachts jemand genähert hätte“, überlegte Samiras laut. Kann es sein, dass irgendjemand dem Baum ein Leid zufügte? dachte sie. Aber ist das überhaupt möglich? Sie fragte ihn.
„ Allein das Böse könnte mir schaden und mir meine Lebenskraft rauben“, erwiderte der Baum. „ Aber das weißt du doch. Ich sagte es dir damals, als wir uns vereinigten.“
„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl“, sagte Samiras unruhig. „Ich sehe mich hier mal um. Mich beunruhigt dieser Gesang. Woher kam er? Wer hat gesungen?“ Sie ging langsam um den Baum herum.
UND DA SAH SIE ES!
Auf dem Boden lagen einige Hände voll zusammengerollter, vertrockneter Blätter.
„ Was beunruhigt dich, Samiras?“, fragte der Perlmuttbaum, dem sich ihre Gefühle und Ängste mitteilten, als wären es seine eigenen.
„Hier liegen noch mehr Blätter. Ich sehe mich mal bei den Büschen dort drüben um. Vielleicht finde ich eine Spur desjenigen, der gesungen hat.“
UND SIE WURDE FÜNDIG!
Mit spitzen Fingern zog sie ein mit Erde beschmiertes Tuch aus dem Gebüsch. Damit hat sich jemand die Hände abgewischt, nachdem er gegraben hat, vermutete sie. Nur wer würde hier, bei dem Perlmuttbaum, graben? Und warum? Nachdenklich kaute Samiras auf ihrer Unterlippe.
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