Er stand auf und ging die Treppe hoch. Frau Weil sah ihn. „Sie möchten nach draußen, Herr Klein?“
„Ja, bitte. Ich muss nur etwas frische Luft schnappen.“ Seine Worte waren mehr ein Krächzen. „Schlimm, so was, nicht wahr?“
„Grausam!“
„Ich kann mich gut daran erinnern.“
Paul wollte nicht mit ihr reden und eilte zum Ausgang. Draußen blieb er stehen und atmete einmal tief durch. Die kalte Winterluft tat ihm gut. Fünf Minuten später kam Klara nach. Sie standen nebeneinander da und schauten auf die Durchgangsstrasse und auf den Verkehr. „Es ist, als wären Esther und ihre Kinder unsere Freunde….,“ sagte sie und steckte die Hände in die Manteltaschen. Sie sind es…irgendwie, dachte Paul.
„Ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen.“
Paul hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. In kritischen Momenten seines Lebens überkam ihn die Lust, aber immer blieb er hart gegen sich selber, denn die Zeiten der Entwöhnung waren auf Kosten seiner Nerven zu teuer erkauft.
Klara hatte nie geraucht.
Nach ein paar Minuten gingen sie wieder hinein. Frau Weil beobachtete sie neugierig. Arme Verwandte, sagte ihr Blick.
In der übernächsten Ausgabe kam die Fortsetzung der Tragödie.
Der 14jährige Heiner R. erzählte den Kripobeamten, unter welchen grausamen Bedingungen er, seine Schwester Lore und seine Mutter leben mussten. Der Vater Wilhelm R. habe seine Schwester jeden Tag verprügelt und noch andere Dinge mit ihr angestellt. Näheres wollte der Junge, der noch unter Schock stand, nicht sagen. Er selber habe bereits gezittert, wenn er seinen Vater nur im Hausflur hörte. Die Szene an diesem Abend war für die Kinder alltäglich. Wenn der Vater herumbrüllte und herumtobte, verkrochen sie sich und mussten zusehen, wie er ihre Mutter drangsalierte. Nachdem sie mit dem Kopf gegen eine Tischkante gestürzt war und regungslos liegen blieb, nachdem der Vater Wilhelm ihr das Geld aus der Tasche genommen hatte und nach draußen gegangen war, rief der Junge einen Notarzt an, der mit seiner Mutter sofort ins Krankenhaus fuhr. Die Nummer dieses Notarztes hatte der Junge immer parat!
In dieser Nacht muss in ihm die ohnmächtige Wut so mächtig geworden sein, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als den Vater zu töten. Als er sah, wie der Mann betrunken in die Wohnung torkelte und sich gleich ins Bett warf, holte er aus der Werkzeugkiste einen Stielhammer. Dann ging er ins eheliche Schlafzimmer und zertrümmerte seinem Vater mit 20 Schlägen den Kopf. Einem Reporter gelang es, Fotos der Polizei in die Hände zu bekommen.
Heiner R. wurde in die „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters Rheinhöhe“ in Eltville-Erbach gebracht. Um seine Schwester Lore kümmerte sich zunächst das Jugendamt.
Auf einem Foto war das zerschmetterte Gesicht eines Mannes zu sehen, die demolierte Kinnlade, der offene Mund ohne Zähne, einige lagen auf dem Bett, viel Blut, geschwollene, weit aufgerissene Augen, kaputte Nase.
Klara und Paul erschauderten.
„Heiner müsste heute ….achtundzwanzig sein, und Lore vierundzwanzig,“ flüsterte Klara und faltete ihre Hände und stützte ihr Kinn darauf.
„Was müssen diese Menschen durchgemacht haben in ihrem Leben,“ stöhnte Paul. „Lass uns gehen. Lass uns einen Tee trinken.“
„Frag, ob du von den Artikeln eine Fotokopie machen kannst.“
„Warum?“
„Überleg doch mal, Paul. Für deine Unterlagen, für Wiesbaden, für die Beweise deiner These, dass die Stimmen identisch sind mit einer wirklichen Person.“
Er rieb sich die Stirne. „Natürlich, du hast Recht.“
Sie erhielten die Erlaubnis, Fotokopien machen zu dürfen. Der Kopierer stand in einem anderen Raum. Sie kopierten die Berichte und steckten sie in einen Umschlag. Dann blätterten sie die anderen vier Ausgaben durch und kopierten auch diese Artikel, die sie zu Hause lesen wollten.
Eine Viertelstunde später bedankten sie sich, und verließen das Gebäude. Draußen fiel weiter Schnee. Sie gingen in ein Cafe in der Nähe.
Paul bestellte sich einen Tee, und schüttelte den Kopf, als er einen Beutel in einem Glas bekam, und schüttelte weiter den Kopf, als auf der Untertasse ein Stück Zitrone lag. „Keine Kultur!“ brummte er. Klara bestellte sich einen Espresso. Sie saßen da und waren in Gedanken versunken.
„Wenn wir schon hier sind, „sagte Paul, „sollten wir auf den Friedhof gehen, zu ihrem Grab, was meinst du?“
„Frag doch bitte die Frau, ob sie weiß, wo Esther liegt.“
Paul nickte. Er trank seinen Tee und stand auf. „Zahl du bitte, wir treffen uns in fünf Minuten hier.“
Klara brauchte nicht lange zu warten, er kam sofort wieder. „Auf dem Friedhof Königstädten liegt sie.“
Sie fuhren hin, parkten den Wagen und gingen in das Büro der Friedhofsverwaltung. Ein junger Mann, wahrscheinlich Student, schaute sie konsterniert an, als Paul die Grabstätte von Esther Reschke wissen wollte.
„Wann ist sie denn beerdigt worden?“ fragte er und legte sein mit Käse belegtes Brot zur Seite.
„Um den dreizehnten, vierzehnten April herum.“
„Neunzehnhundert?“ Er griff nach einem Kugelschreiber und knabberte an ihm herum.
„Sechsundsechzig…..“
„Wann? Sechsundsechzig? Du meine Güte, die Unterlagen liegen in einem anderen Raum. Das ist ja eine Ewigkeit her…..“
„Das ist ja auch für die Ewigkeit gedacht,“ erwiderte Paul, der merkte, dass dem jungen Mann jeder Handgriff zu viel war. „Aber Sie sind ja die Liebenswürdigkeit in Person und schauen mal nach, ja?“
Die Liebenswürdigkeit erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl, schraubte die Thermoskanne zu, als habe er Angst, Paul und Klara würden ihm seinen Kaffee wegtrinken. Dann schlürfte er aus dem Raum. Paul und Klara setzten sich auf die Stühle und warteten. Nach etwa sieben Minuten schlürfte er wieder zurück und hielt einen Zettel in der Hand. „Abschnitt D, Gang vierzehn, Grab sechshundertneunundachtzig, wenn’s Recht ist.“
„Es ist uns sehr recht.“
Zehn Minuten später standen sie vor Esthers Grab. Ein einfacher Stein verkündete die Worte: "Jetzt hast Du Frieden Esther 1934 – 1966". Und in der Mitte des gut gepflegten Grabes steckte eine Vase mit frischen Astern.
Zu Hause öffnete Paul seine kleine Ledertasche, in die er die Kopien der Zeitungsausschnitte gelegt hatte. Er wollte die restlichen Ausgaben durchlesen, während Klara Tee kochte.
Dann kam sie mit der Kanne und den Tassen. Sie setzte sich an den Tisch zu Paul und schenkte Tee ein. Nach einer Weile der Besinnung sagte sie: „Mir wird jetzt erst so langsam bewusst, was wir machen. Wir erforschen ein Leben, das vor langer Zeit zu Ende gegangen ist – und stellen fest, dass es gar nicht zu Ende ist, dass es im üblichen Sinne kein Ende gibt.“
„Ein Kreis hat keinen Anfang und kein Ende,“ sinnierte er und begann die Kopien der Zeitungsausschnitte zu lesen.
Unser Reporter befragte die Nachbarn. Fast alle sagten aus, dass schon seit langem in dieser Wohnung Streit, Kräche, Flüche zu hören waren. Auch haben sie oft gehört, wie er brüllte, dass er sie alle umbringen wolle. Die Ehefrau Esther R. wurde oft mit einem blauen Auge gesehen. Die Kinder flüchteten manchmal abends aus der Wohnung. Sogar das Sozialamt wurde informiert, das aber nicht eingreifen konnte oder wollte. Der Ehemann Wilhelm wurde oft von der Polizei aufgegriffen, weil er nachts betrunken auf der Strasse randalierte.
Die Schwester der Verstorbenen, I. K., war zu keiner Aussage bereit.
Und plötzlich stutzte er.
„Ich glaub es nicht. Ich glaub es einfach nicht,“ rief er. Klara blickte auf und beugte sich zu ihm.
„Hier. Da hat ein Reporter versucht, die Schwester von Esther zu interviewen. Hier, siehst du das Bild? Hier.. die Frau in der Haustüre! Der Reporter wollte sie interviewen, aber sie hatte nichts zu sagen, gar nichts. “
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