Itta stammte aus dem Elend.
Wie sie von jenem schmutzigen böhmischen Grenzort, der seinen Namen in jeder Hinsicht rechtfertigt, zum Hof des Reutbauern im Dorfe Kaltwasser gekommen war, das hatte sich auf folgende Weise zugetragen.
Überall im Wäldlerland ist es Sitte, am Tage Allerseelen eine Unmenge kleiner Brötchen zu backen und sie an die in hellen Haufen aus Böhmen herüberkommenden und auch an die einheimischen armen Leute zu verschenken und dafür ebensoviele »Vergelts Gott für die armen Seelen« einzusammeln. Es ist ein schöner Brauch, der heute noch gerade so gut gehalten wird wie vor vierzig Jahren, als die Wälder noch dichter und darum die Bauern noch wohlhabender waren.
Die Reutbäuerin erfreute sich zu jener Zeit eines besonders guten Rufes hinsichtlich ihrer »Seelwecken«, die an Größe und Weiße ihresgleichen kaum fanden. Sie hatte daher auf zahlreichen Zuspruch zu rechnen und tat dies mit Freuden, obgleich es nicht gerade angenehm sein mag, den ganzen Tag überm Trog gebückt oder am heißen Backofen zu stehen.
»Man tut es ja für die armen Seelen. Und am Ende ist es doch leichter als das Laufen von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, während der Böhmwind schier mit Messern schneidet und Regen mit Schnee untermischt durch die Kleider bis auf die Haut dringt.«
So dachte sie und lächelte mit hochrotem Gesicht ihrem Manne zu, der ihr emsiges Treiben sinnend beobachtete, während er an seinen Spänen schnitzte und hie und da einen Zug aus der Pfeife tat.
Die Knechte saßen auf dem Boden inmitten der Stube und verfertigten Besen aus Heidelsträuchern und Birkenreisern; zwei Mägde spannen silberschimmernden Flachs und eine ältliche Frau mit feinem blassen Gesicht und schlanker Gestalt war am Eichentisch mit Nähen beschäftigt. Sie sah dem Bauern ziemlich ähnlich, was den Schnitt der Züge, die Farbe der Haare und der Augen anbetraf, doch war ihr Ausdruck weicher, ihr Blick sanfter, als der des Bruders. Seit ihren Mann, den königlichen Grenzaufseher Hiller, in den böhmischen Bergen die Kugel eines Schleichhändlers getötet hatte, lebte sie wieder, wie einst, in ihrem Vaterhaus. Eigentlich bewohnte sie ein paar helle Stuben des Hintergebäudes, aber die meiste Zeit verbrachte sie in der Reutbauerischen Familie, sich durch ihre geschickte Hand jedermann nützlich machend. Obwohl sie selten lachte – sie hatte es bei dem größten Unglück ihres Lebens verlernt – lag doch eine stets gleichmäßige, ruhige Freundlichkeit in ihrem Wesen, die ihr die Liebe und das Zutrauen aller erwarb, die mit ihr in Berührung kamen. Der Bruder hatte sogar einen großen Respekt vor der seit ihrer Verheiratung etwas feiner und vornehmer gewordenen Schwester und achtete ihr Wort als entscheidend in den meisten Fragen. Dazu kam, daß er ihr Dank schuldete, denn als er vor zwei Jahren, durch Mißernten und andere Unglücksfälle heimgesucht, nahe daran gewesen war, vom Hof zu kommen, hatte sie ihm unbedenklich ihr beträchtliches Vermögen übergeben und ihn dadurch gerettet.
Neben Burgl, so hieß die freundliche Witwe, saß noch ein zwölf Jahre alter schwarzhaariger Knabe tief über ein Buch gebeugt, aus dem er mit leiernder, tiefklingender Stimme vorlas. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihn berichtigend, denn er legte besonders längeren Sätzen einen oft unmöglichen Sinn unter und stolperte über manche Wörter wie ein Deutsch lernender Franzose. Wäre es eine andere Geschichte als die von Ali Baba und den vierzig Räubern gewesen, so würde Gottfried, der Sprößling der Reutbauerischen Eheleute, wohl kaum bis zur fünfzehnten Buchseite gekommen sein, wie das nun der Fall war. Daß er aber bei der sechzehnten plötzlich abbrach, geschah nicht aus Mangel an Interesse, sondern weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte.
Es war dies ein kaum fünf Jahre altes Mädchen mit blau gefrorenem Gesicht und ebensolchen Händen und Füßen, die nackt in Holzschuhen steckten, an die sich schwere Schneeklumpen geballt hatten. Die kleine, zierliche Gestalt bedeckten notdürftig alte Lumpen und ein schwerer, an ihrem Rücken festgebundener Brotsack beugte sie fast darnieder.
Schon seit geraumer Zeit stand das zerlumpte Persönchen an der Tür und blickte mit großen blauen Augen in der Stube umher, ohne die von den Anwesenden erwartete Bitte um einen Seelwecken auszusprechen.
»Was willst du, Kloane?« fragte die Bäuerin endlich.
»Wärma möcht i mi«, war die fast unverständliche Antwort.
»Na, so sitz dich zum Ofa hin, du armer Narr. Warum ziehst dich denn auch net besser an, wennst in d' Seelweckn gehst?«
»I hab halt sunst nix«, lallte die Kleine mit schwerer Zunge, indem sie eiligst der Aufforderung nachkam und sich an den heißen Kachelofen schmiegte.
»Wie hoaßt denn?« ging nach einer Weile das Fragen weiter.
»Itta.«
»Itta? [1]
des is ja a böhmischer Nam. Bist leicht a kloane Böhmin?«
Itta schwieg und starrte auf ihre blauen Händchen nieder. Sie befürchtete offenbar, durch die Bejahung der Frage die ihr zugewandte Gunst zu verlieren, denn sie wußte trotz ihres kurzen Daseins schon aus Erfahrung, wie sehr man hier alles verachtete, was sich böhmisch nannte.
Gottfried war näher getreten und seine dunklen Augen blitzten sie neugierig an.
»Wo bist denn her, Dirndl?«
»Vom Elend.«
»Also a Böhmin, denn's Elend liegt ja schon enterhalb der Grenz«, sagte der Knabe in geringschätzigem Ton und zog sich zurück.
»Wer is denn bei dir?« fuhr die Bäuerin zu fragen fort.
»Neamd.«
»Ja, du wirst doch um Gottswilln net alloa so weit furtganga sein von dahoam! Warum is dei Mutter net mit dir?«
»Weil s'ferd gestorbn is.«
»Und dei Vater?«
»I hab koan solchen.«
»Na ebban hast dennerst, bei dem du eßn und schlafen tust?«
»Ja, des is d'Elendmüllnerin. Sie hat aber nächst gsagt, sie kunnt mi nimmer derhaltn, i soll drum über d'Granitz in d'Seelweckn gehn.«
»O – gehts ihr leicht so schlecht, der Elendmüllnerin?«
»Na, ihr net, aber mir.«
»Des glaub i dir von Herzn gern, mei arms Kind. Du bist wirkli vom doppeltn Elend her.«
Bei diesen mitleidigen Worten fing Itta herzbrechend zu weinen an und beruhigte sich erst allmählich unter den Liebkosungen der Bäuerin, der die Tränen selbst in den Augen standen. Sie setzte ihr eine Schüssel mit Milch und Brot vor und näherte sich dann ihrem Mann.
»Sag, was wir jetzt mit dem Dirndl tuan«, flüsterte sie ihm zu. »Wir könnens doch net wieder in das schlecht Wetter außischicken.«
Der Bauer zuckte mißmutig die Achseln und machte sich an seiner Pfeife zu schaffen. Nach einer Pause stieß er ärgerlich hervor: »Um solche Kinner soll sich halt d'Gemeinde annehmen und sie derhaltn, statt daß man s'aufn Bettl ausschickt.«
»O mei liaber Himmel, d'Gemeinde!« rief sie.
»Was is denn's Elend für a Gemeinde? Der Burgamoasta hat zwo Goaß im Stall wenns ihm guat geht, und gehts ihm schlecht, so legt er sich selber eini auf d' Strah.«
Er nickte zornig.
»So ists mit die verdammten Grenzböhm. Auf d'Letzt kommens nachher zu uns außa und falln uns zur Last. Man kann ohnehin net acht Schritt mehr machen, ohne daß oam so a tschechisch Lumpengsicht begegnt.«
»Geh, sei net gar so harb, Alter«, beschwichtigte sie ihn. »Es is ja wahr, daß mans net leidn kann und daß sie veracht wern, aber Leut sands halt doch auch wie wir.«
Unbedacht hatte sie das Wort ausgesprochen, das ihn jedesmal in Harnisch brachte, denn ihm war das im Wald ebenso populäre wie ungerechte Sprichwort: »Ein Böhm und ein Stier sand wilde Tier«, mehr wie jedem andern der Ausdruck innersten Überzeugung.
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