„Wir bitten um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“, rief sie dem Admiral zu, der in eben diesem Moment an Deck der Meerjungfrau erschien und ihr selbstbewusst entgegenpfefferte: „Erteilt!“
Lucretia stieß ein leises Seufzen aus und winkte Stowokor und Ahrsa Kasai heran, die zusammen mit ihr das Schiff bestiegen.
Chara stand hinter Telos, seiner Geliebten, Sarah El’Rohir, und Siralen und schielte zwischen deren Schultern zu Al’Jebal, der sich gerade von Lucretia verabschiedet hatte. Über ihrer Schulter hing ihr kleiner Lederrucksack und eine wasserdichte Lederrolle, in der sie die schwarze Rose verwahrte. Ihre Waffen trug sie alle bei sich, darunter ihre Zweililie, drei Nahuas, zwei Dolche, zwei Wurfmesser, drei Wurfsterne und die Peitsche. Ihre magische Rüstung hatte sie zusammen mit ihrer spärlichen Garderobe, einigen Gebrauchsgegenständen, darunter eine ganz beachtliche Menge an Hatschmana und Jhu-Ju, und fünf ihrer kleinen, noch unbeschriebenen schwarzen Bücher in eine Truhe verfrachtet.
Nachdem sie den Hafen betreten hatte, war auch Kerrim aufgetaucht und hatte sich an ihre Seite gedrängt.
„Aufgeregt?“, hatte er gefragt und ihr dabei draufgängerisch zugezwinkert. Als sie nur ein grummelndes „Hm“ zur Antwort gab, hatte er es dabei belassen und vertrieb sich nun die Zeit damit, die Hafenanlage mit seinen Blicken zu erkunden.
Vierzig weitere Dad Siki Na … Chara sah nach ihren neuen Leibwachen. Dreißig davon verteilten sich über den Hafen und suchten die ihnen zugewiesenen Schiffe der Kommandoflotte, während dreiundzwanzig zusammen mit ihr und den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des Flaggschiffs gehen würden.
Die Aussicht darauf, in Zukunft von sagenhaften dreiundfünfzig Stammeskriegern verfolgt zu werden, war nicht gerade erhebend. Überhaupt war ihr der Gedanke daran, dieses Schiff zu besteigen und auf den weiten Ozean zu segeln, eine regelrechte Drangsal. Zum ersten Mal verspürte sie das brennende Bedürfnis, Al’Jebals Befehl zu verweigern – nicht indirekt, wie sie es bereits getan hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht. Einfach vor ihn hintreten und „Nein“ sagen. Nein zu diesem Auftrag, Nein zu ihren neuen Leibwachen, Nein zu ihrer Kommandoposition, Nein zu seinem Entschluss, sie ins Nirgendwo zu schicken, während er hier gegen das Chaosbündnis in den Krieg zog. Die Expedition war wichtig, sicher. Sie selbst hatte während der Allianzfeier klar gemacht, wie wichtig sie war. Aber sie, Chara, konnte nicht viel zu ihrem Gelingen beitragen. Sie war hier in Tamang besser aufgehoben.
Die Zweililie an ihrem Rückengurt drückte unangenehm gegen ihre Wirbelsäule, als sie einen weiteren Schritt in der Reihe nach vorne machte. Telos würde hoffentlich länger mit Reden brauchen als Siralen, die sich, ihrer Rasse kaum angemessen, sparsam verabschiedet hatte.
Ein Blick auf ihren Lehrmeister Assef El’Chan signalisierte ihr, dass der Schwarze Assassine sie im Auge hatte – sie und Kerrim. Das magische Artefakt, das Al’Jebal erwähnt und Kerrim überantwortet hatte, jenes Ding, das ihr auf unbestimmte Zeit die Kommunikation mit dem Namai ermöglichen sollte, war der Beweis für Al’Jebals Vertrauen in ihren braunäugigen Kollegen.
Telos und Sarah traten zur Seite und die tiefrote Robe schob sich in Charas Blickfeld. Mit einem seltsam hohlen Gefühl im Bauch trat sie vor den Sprecher der Allianz. Einst hatte sie geglaubt, in ihm der Weisheit letzten Schluss erkannt zu haben. Und noch immer war sie überzeugt davon, überzeugt von dem Namai in ihm, der über allen Dingen stand.
„Chara“, empfing Al’Jebal sie ruhig. „Dein Wille zum Kampf scheint sich diesmal in Grenzen zu halten.“
Chara schluckte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. „Ich bin nur nicht besonders scharf darauf, endlos, vielleicht sogar sinnlos auf dem Ozean herumzusegeln, während der eigentliche Kampf hier ausgetragen wird.“
Zugegeben, das klang aufmüpfig. Aber das war ihr im Augenblick egal. Sollte er sie doch festnehmen und in einer Zelle schmoren lassen. Dann bliebe sie wenigstens in Tamang und die vermaledeite Mission hätte sich für sie erledigt.
„Wie lautet deine erste Maxime?“
Chara verzog das Gesicht. Tatsächlich musste sie kurz nachdenken.
„Finde einen Zweck, der es dir erlaubt, dein Leben dem Tod vorzuenthalten und erfülle diesen Zweck.“
Ein kaum merkliches Nicken. „Du hast deinen Zweck noch nicht gefunden, auch wenn du das glaubst“, antwortete er. „Deine Bestimmung wirst du erst jenseits des Großen Abgrunds finden.“ Sein Blick zuckte zu Kerrim und es schien, als würden die beiden sich auch ohne Worte einwandfrei verstehen.
„Na, dann werde ich ainmal verabschieden mich“, meinte Kerrim. Er ließ sich von Al’Jebal alles Gute wünschen und schlenderte pfeifend zur Laufplanke.
Chara war schon drauf und dran, ihm zu folgen, doch Al’Jebal hielt sie zurück.
„Sieh mich an, Chara.“
Sie folgte der Anweisung widerstrebend.
„Versprich mir, dass du zurückkehrst.“
Sie schluckte erneut. Ein Versprechen? Wieso befahl er es ihr nicht einfach?
Chara hätte gerne „Nein“ gesagt, nur um irgendetwas in ihm auszulösen, obwohl sie wusste, dass das unmöglich war. Nicht sie. Nicht bei einem wie ihm.
„Ich verspreche es“, sagte sie hohl.
„Gut.“
Da war sie wieder – diese seltsame, abstruse Nähe zwischen ihnen, die sie schon bei ihrem letzten Gespräch gefühlt hatte. Näher!, hätte sie am liebsten geschrien, nur um ihn im selben Atemzug ans Ende der Welt zu wünschen.
„Pass auf dich auf, Chara.“
Und damit endete der Abschied und eine seltsame Leere ergriff Besitz von ihr. Al’Jebal wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und schritt mit Assef El’Chan zu Agem Ill und Freon Eisfaust. Betäubt starrte sie ihm hinterher. Ein letztes Mal nahm sie den vertrauten Anblick des Magiers in roter Robe in sich auf, fühlte das Band, das die Assassinin so unwiderruflich an ihren Meister fesselte, und brach schließlich den Bann, in den Al’Jebal sie jedes Mal zog, wenn er ihr so nahe war wie jetzt gerade.
Behäbig drehte sie sich um, schob den Gurt ihres Rucksacks zurecht, ließ sich von Nok und Iti in die Mitte nehmen und stiefelte über die Laufplanke Richtung Reling.
„Kann ich an Bord kommen?“, knurrte sie Tauron Hagegard entgegen, als sie einen Fuß bereits auf dem Hauptdeck hatte.
„Ja doch, Flottenoberkommandantin!“, kam es leicht ungehalten zurück. „Schätze, die Frage gilt auch für deine Jungs, was? Jep, kommt nur alle auf mein Schiff. Ist ja genug Platz hier.“
Chara ignorierte ihn und steuerte, gefolgt von dreiundzwanzig Dad Siki Na, die Luke zu den Unterdecks an.
„Die Treppe runter, durch die Mannschaftsunterkünfte in den Korridor Richtung Heck, erste Tür Steuerbord!“, rief ihr Tauron hinterher. „Keine Ursache! Immer wieder gern!“
Tauron verdrehte die Augen und wandte sich an seinen Kapitänsanwärter. „Elende Landratten sind das. Es wird Monde dauern, bis die den Unterschied zwischen abtakeln und abseilen kapieren.“
Gardwain Arkos schüttelte lächelnd den Kopf und machte sich daran, die Matrosen an ihre Plätze zu scheuchen. „Los los los! Ich seh’ hier noch keinen schwitzen!“
„Taue lösen!“, brüllte Tauron, während er, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum Poopdeck hochsprang. „An die Riemen! Bringt dieses prachtvolle Weib auf die See hinaus!“
„Aye Käpt’n … Admiral!“
„Das will ich doch meinen. Sobald wir durch das Hafentor sind, Formation einnehmen!“
Tauron ließ seine Augen über den Pier gleiten. Hände und Taschentücher gingen nach oben und flatterten den aus dem Hafen gleitenden Schiffen hinterher. Zurückgelassene Ehefrauen und -männer verabschiedeten sich in traditioneller Manier – manche von ihnen mit ihren Kindern an der Seite. Irgendwo zwischen all den Leuten, da war er sich ziemlich sicher, stand auch die Kleine, mit der er sich gestern Nacht die Zeit vertrieben hatte, was recht vergnüglich, aber nicht sonderlich nachhaltig gewesen war. Ihm selbst war ganz und gar nicht nach Abschiedsschmerz oder gar Tränen zumute. Vor ihm stand das größte Abenteuer, die größte Herausforderung, der er sich je gestellt hatte, und er liebte Herausforderungen.
Читать дальше