Nachdem die Truppen an Bord gegangen waren, hallte ein fernes Donnern in die Felsengrotte und der Jubel verstummte mit einem Mal. Die Hektik unter den Hafenarbeitern fror ein und sämtliche Gesichter wandten sich dem Tunnel zu, in dem der dumpfe Schlag mächtiger Huftiere laut geworden war. Kurz darauf tauchten zwanzig Kentauren in der Grotte auf und trabten in Zweierreihen eine der Kaizungen entgegen, die aus der Leibung des Beckens ins Wasser ragten. Beim Anblick der stolzen und seltenen Wesen ging ein verhaltenes Raunen durch die Menge. Doch kaum, dass die Pferdemenschen ihre hehre Gestalt Preis gegeben hatten, tauchten sie auch schon wieder ab und verschwanden in den Schiffsbäuchen der eigens präparierten Transporter.
Der Verlust war verschmerzbar, denn schon im nächsten Augenblick folgte ein neuer Höhepunkt: Aus der dem Flaggschiff am nächsten gelegenen Tunnelöffnung schälten sich die Konturen mehrerer Personen. Und die meisten davon waren jedem Allianzmitglied bekannt.
Flankiert von seiner Rechten und Linken Hand, Agem Ill und Assef El’Chan, und begleitet von seinem Blutsbruder Freon Eisfaust, betrat Al’Jebal die Hafenhalle. In der vertrauten Tracht der dunkelroten Robe hielt er auf den Pier und den gemauerten Steg zu, an dem die Meerjungfrau lag.
Wenige Schritte nach dem Sprecher der Allianz kamen drei Zauberkundige aus dem Tunnel, darunter eine Frau mit feuerrotem Haar an der Seite eines etwas dicklichen Magiers in nachtblauer und einem hageren in bunter Robe, den einige als einen der höchstrangigen Zauberkundigen der Allianz wiedererkannten. Sein Name war Ahrsa Kasai.
Danach betrat eine Kriegerin in grau-grüner Tunika und lederner Schwertscheide am Rücken den Hafen. Ihr silbergraues Haar entlarvte sie als eine aus dem Volk der Elfen. Hinter ihr, an der Seite einer jungen, hübschen Zauberkundigen mit strengem Haarknoten, schritt ein missgestalteter Mann in weißer Toga mit roter Schärpe, den die meisten als Oberhohepriester des Agramon Telos Malakin kannten. Und während beim Anblick der Kommandanten der Expedition neugierige und meist wohlmeinende Blicke getauscht wurden, nahm man jene Männer, die sich kurz darauf aus dem Dunkel des Tunnels schälten, mit finsterem Argwohn zur Kenntnis. Man hatte bereits von den Kriegern gehört. Sie waren von der Allianz als Verbündete im Kampf gegen das Chaos vorgestellt worden. Die Wahrheit aber war, dass die Männer, angeblich von den Kabugna-Inseln, einzig und allein dem Schutz jener Frau dienten, die zwischen ihnen die Hafenanlage betrat. Chara Pasiphae-Opoulos verschwand förmlich in der Menge der tätowierten Halbnackten, und nur das Schwarz ihrer Assassinenkleidung war ab und an zu sehen.
Alles in allem also eine aufregende Darbietung der Allianzführung einerseits und des Expeditionskommandos andererseits, was eines übereifrigen Getuschels allemal würdig war:
„Habt ihr diese Wilden gesehen? Sind eindeutig Kannibalen, wenn ihr mich fragt.“
„Wie kommt’s, dass die eine Assassinin bewachen?“
„Eine Elfenkriegerin im Kommando … na, das kann ja heiter werden.“
„Wisst ihr überhaupt, dass die Lächlerin den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten niedergestreckt hat?“
„Das ist nicht wahr … er war nur ein Anfänger. Telos Malakin, der weiß, wie man das Chaos in den Boden hämmert. Hat den Propheten Togh Levas in die Unterwelt geschickt und ein ganzes Dorf voller Chaosanhänger ganz allein gehämmert.“
„Weiß jemand von euch, wieso man sie Sandkorn nennt? Ich meine, was hat der Name überhaupt zu bedeuten?“
„Klein, unwichtig, scheuert penetrant, wenn man es ins Auge bekommt …“
„Es heißt Sandkorn auf der Schicksalswaage – Na, klingelt da was bei euch?“
Es wurde gemunkelt, spekuliert, gepriesen und prophezeit, aber keiner ließ sich dabei die Gelegenheit durch die Lappen gehen, die berüchtigten Allianzmitglieder ganz genau in Augenschein zu nehmen.
Lucretia hatte sich in feines, aber zweckdienliches Tuch gekleidet. Sie trug einen kurzen Hosenrock, eine hochgeknöpfte Bluse und einen Lodenumhang. Ihr wichtigstes und sehr geschätztes Hab und Gut hatte sie in drei große Holztruhen verpackt, die bereits an Bord der Meerjungfrau geschafft worden waren. Jetzt stand sie mit einem leichten Handkoffer, den breitkrempigen Hut zwischen Finger und Henkel geklemmt und einem seltsam euphorischen Gefühl im Bauch vor dem Sprecher der Allianz. Neben ihr unterhielt sich Stowokor leise mit ihrem Berater Magus Primus Major Ahrsa Kasai.
Ein leises Räuspern, dann wandte sie sich Al’Jebal zu. „Ich danke Euch für die Unterstützung, die Ihr mir in Gestalt des Magus Primus zur Seite gestellt habt“, begann sie und nickte verhalten in Kasais Richtung. „Soweit ich informiert bin, war er es, der einen Großteil der Besatzungsmitglieder geprüft und ausgewählt hat. Und nach allem, was ich bis jetzt von ihm sehen durfte, ist er über seine magischen Fähigkeiten hinaus auch ein hervorragender Logistiker.“
Al’Jebal warf dem Magus einen kurzen Blick zu, schien in Gedanken aber woanders zu sein.
„Er ist kompetent“, lautete seine schmucklose Antwort. „Was Euch betrifft, erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe.“
Natürlich erinnerte sie sich. Sie wusste genau, dass ihr in Erainn misslungen war, was sie sich so strikt vorgenommen hatte. Sie hatte ihre Untergebenen nicht von sich überzeugen können. Und das war es, worauf es laut Al’Jebal ankam, wenn man sich Macht erwerben wollte. Ihre magischen Fähigkeiten allein reichten dafür nicht aus. Außerdem erinnerte sie sich an die Situation im Kerker von Mon Asul. Sie war bereit gewesen, die Würde und das Leben eines Mannes zu opfern, um ihr altes, schönes Gesicht zurückzubekommen und die schreckliche Narbe endlich loszuwerden, die sie sich in Cunair Tarr zugezogen hatte. Sie hätte den infamen Helm benutzt. Doch Al’Jebal hatte es im letzten Moment unterbunden und ihr damit eine Lehre erteilt.
Ihr werdet mit Eurem Makel leben müssen. Seine Worte verursachten ihr noch immer Albträume. Was Al’Jebal offenbar nicht honorieren wollte, war, dass sie für ihn an ihre Grenzen gegangen war. Sie hatte erlebt, wie es war, sich ohnmächtig zu fühlen. Doch jetzt war es an der Zeit, voranzuschreiten und sich von dem Schmutz der vergangenen, entwürdigenden Ereignisse des Krieges reinzuwaschen. Eine Expedition versprach neue Ufer, unbekannte Dinge und Wesen, die es zu entdecken und verstehen galt, neue Herausforderungen für die Magie, die sich fortlaufend weiterentwickelte – eben alles andere als das, womit ein offener Krieg in all seinen blutigen, dreckigen und elenden Facetten aufwartete.
Lucretia zupfte sich eine Locke aus der Stirn und sah Al’Jebal aufrecht in die Augen. „Ich erinnere mich an Eure Lehren und werde ihrer gedenken“, sagte sie mit allem Ernst, der ihr innewohnte. „Ich werde hart an mir arbeiten.“ Lucretia fühlte, wie allein durch diese Worte neue Zuversicht in ihr zum Leben erwachte. „Lebt wohl, Al’Jebal.“
„Viel Erfolg, Magus Secundus“, antwortete Al’Jebal, und Lucretia machte sich auf den Weg zur Planke. Der neue Titel eines Magus Secundus klang ihr wohlig in den Ohren. Nach ihrer letzten Ausbildung hatte sie der oberste Zauberkundige Gemiramel Weißfels in den nächsthöheren Rang einer Magierin aufsteigen lassen. Neben ihrem Ehrentitel war dies eine Bestätigung dafür, dass ihre Leistungen nicht unbemerkt geblieben waren.
Als sie die Planke betrat, streifte Lucretias Hand über die Lederrolle an ihrem Gürtel.
Was wollt Ihr? Wir können Euch helfen.
Sie hatte die Botschaft aus unbekannter Feder beantwortet oder besser, eine Frage zurückgeschickt, in der Hoffnung, mehr über den Verfasser zu erfahren. Die Antwort war nicht gerade hilfreich gewesen: Jemand, der Euch geben kann, was Ihr Euch wünscht.
Sie hatte sich vorgenommen, einstweilen nicht darauf zu reagieren, erst einmal abzuwarten. Noch hatte sie mit Stowokor nicht über ihr Antwortschreiben gesprochen. Und irgendetwas mahnte sie davor, es in nächster Zeit zu tun.
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