Meine Großmutter wollte ihren Ältesten, nicht an einen „Fabrikklater“ verlieren. Damit meinte sie meine Mutter. Dass sie ihren Sohn schon verloren hatte, wusste sie nicht, oder sie ahnte es und gebärdete sich gerade deshalb so. Mein Vater sollte in die Betstunde für junge Männer gehen, die die katholische Kirche in der Richardstraße in Neukölln veranstaltete, wie seine zweite Schwester, die Else, die dort ihren späteren Mann kennenlernte, einen gut situierten Herrn. Er war Beamter, später Angestellter des Westberliner Senats, arbeitete dort bis zu seiner Pensionierung. Mein Vater weigerte sich, in die Bibelstunde zu gehen. Er wollte nicht beten, nachdem er an der Front erlebt hatte, wie Leute sich mit gesegneten Waffen totschossen. Er stieß zur Wandervogelbewegung. Hier war man friedlich und ging in die Natur. "Fürsten in Lumpen und Loden". Wandern, Nacktbaden, Rabindranat Tagore lesen und reden. Das kostete kein Geld. Aber das war nur ein Grund, weshalb sich meine Großmutter aufregte, wenn sie überhaupt Gründe brauchte, sich aufzuregen. Eher liegt nahe, anzunehmen, dass sie keine brauchte oder sowieso genügend hatte, wie man es nehmen will. Der zweite Grund ihrer Aufregung war ohnehin gegenstandslos geworden. Mein Vater hatte kurz nach seiner späten Lehrzeit die Arbeit verloren und konnte also gar kein Kostgeld abgeben. Deshalb gewöhnte er sich auch so schwer an den Gedanken, dass meine Mutter ein Kind von ihm bekam. Erschrocken war auch meine Mutter, weshalb sie noch im sechsten Monat eine Abtreibung versuchte. Aber mein Bruder blieb. Ein junges Mädchen ohne mütterlichen Ratschlag wusste nicht viel.
Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nur noch einen Vater, dem sie im Krieg die Beine zerschossen hatten. Er hatte steife Knie und litt große Schmerzen. Er starb, bald nachdem mein Bruder geboren war. Meine Mutter hatte man mit zwei jüngeren Schwestern 1916 in ein Waisenhaus gebracht, als auch die Stiefmutter starb, die der Vater geheiratet hatte, nachdem er Witwer mit vier Kindern geworden war. Meine Mutter war sechs Jahre alt, als ihre leibliche Mutter an einer Unterleibssache zugrunde ging. Die jüngste Schwester, Hilde, war gerade ein Jahr, Lucie, die dritte, vier und Otto, der Älteste, neun Jahre alt, als ihnen die Mutter wegstarb. Von ihrer richtigen Mutter hat meine Mutter nur wenig im Gedächtnis behalten. Anders war das mit der Stiefmutter. Die Erinnerungen an sie blieben meiner Mutter lebendig. Für mich haben ihre Erzählungen das Bild von Stiefmüttern bestimmt. Die Frau muss so gewesen sein, wie man Stiefmütter aus Märchen kennt. Von ihr bekamen die drei Mädchen und der ältere Junge nur eine einzige Brotschnitte zum Abendbrot, verschieden dünn oder dick, wie man's nimmt. Es gab während des 1. Weltkrieges, wie man ihn später nannte, viel Hunger. Darauf konnte sie sich herausreden. Meine Mutter erzählte, dass sie und die jüngeren Schwestern für jede Laus, die sie aus der Schule in ihren langen Zöpfen mitbrachten, eine Ohrfeige einstecken mussten. Hilde, die kleinste der Schwestern, bekam manchmal Schokolade von Onkels, die am Vormittag zu Besuch kamen. Otto, schon vierzehnjährig, soll dann immer "Schweigegeld, Schweigegeld" gerufen haben. Warum mein Großvater diese Frau geheiratet hat, konnte meine Mutter nicht sagen. Einige Jahre hindurch hatte er es mit bezahlten Hilfen versucht, Frauen, die die Kinder für Geld betreuten. Aber das Geld war nicht reichlich, und außerdem wuchsen die vier Kinder den Tanten über den Kopf. Deshalb wohl hatte er sich für die Heirat mit dieser Frau entschieden. 1917 starb auch sie, und die drei Schwestern kamen ins Waisenhaus. Woran die Frau starb, wusste meine Mutter nicht. Die Nachbarn sprachen über deren Krankheit nur hinter vorgehaltener Hand. Zuletzt war sie im Krankenhaus, und der Vater bekam keinen Fronturlaub.
Das eine Jahr Waisenhaus ist in der Erinnerung meiner Mutter nicht das schlechteste ihres Lebens gewesen. Es gab dort etwas mehr zu essen als bei der Stiefmutter, besonders von den weißen Bohnen konnten sie satt werden. Nach einem Jahr brachte man sie auf einen Bauernhof nach Lindenberg im Kreis Beeskow. Die Bauern suchten eine Magd, und da meine Mutter dreizehn Jahre alt war, erwarteten sie sich von ihr eine Hilfe. Die zwei jüngeren Schwestern kamen zu anderen Bauern im gleichen Dorf. Das war eine Bedingung der Waisenhausleitung, die die Schwestern nicht getrennt sehen wollte. Im Ganzen ging es meiner Mutter in dieser Bauernfamilie nicht schlecht. Sie lernte alle bäuerlichen Arbeiten, hatte es dabei natürlich schwerer als die gleichaltrigen Söhne des Bauern, denen alles vertraut war. In Lindenberg ging meine Mutter noch ein Jahr in die zweiklassige Dorfschule. Dort lernte sie nach eigener Aussage nichts mehr dazu. Entweder fiel der Unterricht wegen Siegesfeiern aus, die der Lehrer Sommerfeld mit kurzen Chorproben begehen ließ. Oder sie konnte nicht in die Schule gehen, weil wichtige Feldarbeiten ins Haus standen. Wenn sie in der letzten Bank saß, weil sie eine gute Schülerin war, las sie die "Gartenlaube", die sie auf dem Boden des Bauernhauses gefunden hatte. Zu den Bauersleuten fasste sie schnell Zutrauen, als sie bemerkte, dass die von ihr keine andere Arbeit erwarteten als von sich selbst. Auch konnte sie sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich satt essen, Kartoffeln, Brot und Quark waren immer ausreichend für alle da. Nicht nur am Anfang, wie sie zunächst befürchtet hatte.
Mit achtzehn Jahren verließ sie Lindenberg und ging wieder nach Berlin zu ihrem Vater. Der bewohnte eine Kellerwohnung, in der die wenigen übrig gebliebenen Möbel seines ehemaligen Hausstandes untergebracht waren. Das Wohnzimmer war zugleich die Werkstatt, in der er Brieftaschen, Etuis und Portemonnaies herstellte. - Die Jänickes, wie die Bauernfamilie hieß, hatten meiner Mutter von ihrem vierzehnten Lebensjahr an Lohn auf ein Sparbuch bezahlt. Aber von dem Geld sah meine Mutter nichts. Die Inflation hatte den Ertrag von vier Arbeitsjahren aufgezehrt. So brachte meine Mutter 1923 nur die Schuhe und das Kleid mit nach Berlin, die sie zu ihrer Konfirmation getragen hatte. Beide waren ihr zu groß, weil man sie auf Zuwachs gekauft hatte. Meine Mutter trug Zeitungen aus, dafür bekam sie Geldscheine mit vielen Nullen. Einige dieser Inflationsnoten haben in meiner Kindheit noch existiert, und ich war immer ganz fassungslos über die hohen Beträge, die ich in meinem Kaufmannsladen hatte. Auch der Bruder Otto wohnte beim Vater in der Kellerwohnung. Er hatte seinen Freiplatz auf der Handelsschule wegen Bummelei verloren, während der Vater im Krieg war.
Otto war mit Karl befreundet, mit dem er in den Arbeitersportverein „Fichte“ ging. So lernte mein Vater die Grete kennen, die Schwester seines Freundes. Sie gefiel ihm, er lud sie zu gemeinsamen Wanderungen ein, und es dauert nicht lange, bis sie schwanger war.
Nachdem meine Mutter in andere Umstände geraten war, wollte sich mein Vater das Leben nehmen. Aber dann besann er sich und ging zusammen mit Otto auf die Walz, ins Ruhrgebiet. Die Ausweispapiere warfen sie beide weg, weil sie sowieso ein Nichts waren, wie sie feststellen mussten, ohne Arbeit und Geld. Natürlich konnte da nur die Weltrevolution Abhilfe schaffen, für die Otto schon im Kommunistischen Jugendverband arbeitete. Meine Mutter trug währenddessen Zeitungen aus und kam die letzten vier Monate der Schwangerschaft in einem Schwesternheim unter. Dort lernten Hebammen an ihr das Entbinden, und sie musste sauber machen und konnte unentgeltlich ihr Kind zur Welt bringen. Sie war's zufrieden. Es hätte schlimmer kommen können. Nachdem mein Bruder ein viertel Jahr alt war, musste sie dort weg, sie wohnte wieder in der Kellerwohnung. Karl, der Vater ihres Kindes war inzwischen wiedergekommen. Er hatte ihr vorher einen Brief geschrieben, in dem er eine Zeile aus einer damals bekannten Operette zitierte. Da ist von den Schwalben die Rede, die sich ein Nest bauen wollen. Ich habe diesen Brief später entdeckt und mir so meinen Vers darauf gemacht. Aus dem Ruhrgebiet war er zurückgekehrt, weil es auch dort nur Aushilfsarbeit gab. Außerdem gab es Wanzen, die er von dem Schlafburschen übernommen hatte, der das gleiche Bett benutzte, wenn Karl seine Schicht machte. Die Arbeit, wenn es sie gab, war schwer und die Arbeiter ohne Klassenbewusstsein. Da kam mein Vater lieber zurück in die Reichshauptstadt. Hier bekam er sogar vorübergehend Arbeit, bis 1928 etwa. Dann war Schluss, dann gab' s nur noch den Nachweis, wie die Berliner damals die Arbeitsämter nannten. Mein Vater musste immer zum Arbeitsamt an der Sonnenallee, wo er stempeln ging, um seine Arbeitslosenunterstützung zu bekommen. 14 Reichsmark bekam er für die Woche. Damit musste gewirtschaftet werden. Wie kann ich nicht so leicht sagen. Aber es gehörte zu den Kunstfertigkeiten meiner Mutter, das zu können. Sie hat einen großen Teil ihrer Energie darauf konzentriert, das zu erlernen. Darüber verging ihr das Leben.
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