Die Mädchen im Schlafsaal quasselten ununterbrochen von Jungs und Klamotten und Make-up und ich bekam kaum Schlaf. Mir blieb gar nichts anderes übrig als mitzumachen.
“Oh sieh’ dir nur diesen süßen Minirock an, Nicole. Das passt so gut zu dem orangenen T-Shirt,” jubelte Tina.
“Wahnsinn! Das musst du heute abend anziehen. Unbedingt. Wir treffen die Jungs in der ‘Eierschale’ um sieben. Da braucht man was Schnuckeliges.”
“Soll ich den blauen Lidschatten tragen oder nur schwarzen Kajal?” fragte Tina.
“Beides!”
“Ich hab’ gar kein Make-up,” meinte ich kleinlaut.
“Oh, Isabell. Du musst unbedingt Lidschatten auflegen! Hier, nimm’ welchen von mir.”
Nicole und Tina nahmen mich unter ihre Fittiche als sei ich eine arme Verwandte. Ich ließ es mir gefallen, nur bei den Klamotten weigerte ich mich einen hellgrünen Mini zu tragen. Wir gingen shoppen und in Discos für die wir nicht zu jung waren. Sport war so ziemlich Nebensache.
Nach Berlin begann mich das Hypnose-Experiment von Dr. Albrecht zu langweilen. Ich wollte unkompliziert sein und unkomplizierte Dinge tun, wie andere Teenager auch.
Reinkarnation war alles andere als unkompliziert.
“Wir sollten herausfinden, warum Sie immer wieder zu diesem Radschputen-Leben zurückkehren.” Dr. Albrecht war mittlerweile in der Bibliothek fündig geworden. Radschputen waren eine hohe Kaste der Hindus im Norden Hindustans. Irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan.
“Es muss einen wichtigen Grund dafür geben, warum dieses Leben so wichtig für Sie ist. Vielleicht finden wir ja hier die Ursache für ihre Magenschmerzen.”
“Ja vielleicht,” antwortete ich lustlos. “Aber im Moment habe ich einfach keine Zeit für sowas.”
Dr. Albrecht sah enttäuscht drein. Das ließ sich nicht ändern.
“Ich verstehe schon. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie weitermachen wollen, Isabell. Es wäre schade, wenn wir das nicht zu Ende bringen.”
“Mach’ ich wohl. Danke für alles, Doc.” Eigentlich hatte ich nicht vor wiederzukommen, aber man konnte nie wissen.
Bald wurde mir der Ruderclub auch zu langweilig. Das tägliche Training war anstrengend und ich weigerte mich in den Nationalkader aufzusteigen wie ein paar andere Mädchen in meiner Altersgruppe.
“Chrissie und Daniela haben den Kader geschafft,” meinte Heinz bei der nächsten Club-Disco. Er strich sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht.
“Aha, deshalb sehen sie so langsam wie Kleiderschränke aus,” kicherte die eher zierliche Tina. “Ich bin froh, dass mich der Trainer nicht für den Kader vorgeschlagen hat.”
“Puh, da hast du recht,” stöhnte ich.
Ich beobachtete Chrissie, wie sie an der Bar stand und Cola bestellte. Ihre Schultern waren jetzt mindestens so breit wie die von Heinz.
“Dazu hab’ ich auch keine Lust. Alles dreht sich nur noch ums Training und Proteinshakes und sowas. Am Wochenende immer nur Regatten. Man hat gar keine Freizeit mehr. Rudern kann doch nicht alles im Leben sein.” Ich jedenfalls wollte mehr vom Leben.
Ich hatte begonnen für die ‘Beatles’ zu schwärmen und hing mir ein ‘HELP’ Poster übers Bett. Renate und ich gingen abends aus. Großmutter Bertrand duldete meine abendlichen Ausflüge und die Beatles-Phase.
Vielleicht bekam sie es gar nicht so genau mit. Sie war nun schon fast taub und sah am liebsten mit Kopfhörern fern.
‘All you need is love…Hey Jude…A ticket to ride…’
John und Paul waren so sensibel. Sie verstanden mich, sangen für mich. Leider verstand ich kaum Englisch. Trotzdem versuchte ich im Park die Lieder auf meiner Gitarre nach zu spielen.
“Kannst du nicht mal von was anderem reden?” Renate hatte einen anderen Musikgeschmack. “Das ist doch so von gestern! Hast du noch nie was von Gerry Rafferty gehört oder von Foreigner?”
“Ja, ja, die kenn’ ich. Fleetwood Mac mag ich auch - und Pink Floyd. Aber die Beatles sind schon Klasse. Schade, dass sie sich getrennt haben, findest du nicht?”
“Nein.” Renate stand vor dem Spiegel und trug sorgfältig blauen Lidschatten auf. Ich rieb übelriechende Fönlotion in meine Haare, um die modische Außenwelle hinzukriegen. Der Fön brummte los, aber meine Oma sah nicht mal auf.
“Ach komm’ schon, ich könnte mir ‘Ticket to Ride’ stundenlang anhören,” meinte ich eigensinnig.
“Ich aber nicht. Bist du endlich fertig?”
“Gleich.” Ich schaltete den Fön aus. “Tschüss Oma, wir geh’n jetzt.” Oma Bertrand tätschelte meine Hand und sah gebannt auf den Bildschirm.
“Weiß sie was du gesagt hast?” wunderte sich Renate.
“Keine Ahnung, sie ist schon sehr alt.”
“Hast du deine Schlüssel?”
“Ja.”
Meist spazierten wir nur mit italienischen Eiskremtüten die Kaiserstraße rauf und runter oder setzten uns auf eine Cola in den ‘Burger King’. Manchmal schauten wir auch in Discos ‘rein, aber nur am Wochenende. Discos waren teuer.
Im September wechselten wir von unserem Mädchengymnasium auf eine gemischte Schule. Ich hatte guten Grund dazu. Renate ging mit aus Solidarität.
Herr Konrad, unser Lateinlehrer schikanierte mich. Ich war zwar lange die Beste in Latein gewesen, aber weil ich immer zum Rudern ging, hatte ich wenig Zeit zum Lernen. Das nahm Herr Konrad mir äußerst übel und ließ die ganze Klasse wissen, was er davon hielt.
“Bücher auf. ‘De Bello Gallico’ Seite 32 dritter Absatz. Isabell, wir würden ja alle sooo gerne ihre Übersetzung hören.”
Seit meinem ‘Sündenfall’ - eine vier in der Klassenarbeit - war ich in die erste Reihe befördert worden und sah nun direkt in das bärtige Gesicht des gestrengen Lehrers. Sein flammendroter Bart verbarg nur schlecht den verächtlichen Gesichtsausdruck. Erst später wurde mir klar, dass Herr Konrad nach Alkohol roch und nicht nach Aftershave.
“Ich habe nur die Konjugation der Verben gemacht. Ich war nicht da, als Sie uns das mit der Übersetzung —”
“Habe schon bessere Entschuldigungen gehört.”
“Aber…”
“Nichts aber. Sie hätten eine Ihrer Mitschülerinnen fragen können. Marion, würden Sie nicht liebend gerne Isabell hier die Hausaufgaben mitteilen, wenn es ihr gefällt danach zu fragen?”
“Ja natürlich, Herr Konrad. Liebend gern.” Marion grinste in meine Richtung. Zumindest konnte ich das Grinsen auf meinem Hinterkopf spüren.
Als sich Herr Konrad der Tafel zuwendete, traf mich ein Papiergeschoss an der Schulter. Dann noch eins. Irgendwann hatte ich genug. Nicht, dass die neue Schule viel besser gewesen wäre. Die Lehrer waren raubeinig und zynisch, aber zumindest musste ich mich nicht mehr mit Herrn Konrad und Papiergeschossen herumärgern. Ich konnte auch raubeinig und zynisch sein, wenn ich musste.
Es gab richtig nette Jungs in unserer Klasse. Walter schielte leicht und hatte eine Hakennase. Er war groß und ungelenk, aber hilfsbereit und angenehm normal. Tarek war Deutsch-Algerier, hübsch, modebewusst und reserviert.
Wahrscheinlich verwirrte es ihn, dass er eigentlich Jungs mochte. Tarek wohnte mit seiner Mutter in einer Wohnung in der Straße beim Bundesverfassungsgericht. Das war nicht weit von der Schule und wir verbrachten dort oft die Freistunden.
Zu unserer Gruppe zählte auch Angie. Leider mochte die Großmutter, bei der sie wohnte, weder moderne Kleidung noch die psychedelische Kultur der siebziger Jahre. Angie war plump, trug eine altmodische Brille und wollte endlich ausziehen.
“Wir hatten doch gestern noch Cola.” Tarek kramte im Kühlschrank der engen und sehr sauberen Küche herum. Vier saubere Gläser standen schon auf dem Tablett.
“Apfelsaft tut’s auch,” sagte Angie gutmütig.
Wir saßen meist in seinem kleinen und sehr sauberen Zimmer und redeten darüber, wie sehr uns die Lehrer auf die Nerven gingen. Der Lehrer, der angeblich Adams/mein Kamerad gewesen war, hatte sich versetzen lassen. Am liebsten hätte ich mehr über Tareks Kultur erfahren und ihm von meinem Radschputen-Erlebnis erzählt. Aber mit Algerien wollte Tarek nichts zu tun haben, und Reinkarnation war bestimmt auch nicht seine Sache. Wir vier bildeten bald eine Clique aus der Renate sich ‘raushielt.
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