»Probier doch mal!«, fordert sie mich auf und bekommt einen weiteren Lachanfall. »Der ist doch viel zu schade, den kann man doch nicht einfach aufessen.« »Okay, dann stell ihn erst ein paar Tage zur Dekoration auf deine Anrichte«, schlägt sie vor. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Ich stelle mir gerade vor, wie Paul die Kinder morgen abholt und an meiner Anrichte vorbeigeht. Oder die Kinder ihn sehen. Oder Michael. Oder Oma Lotte. »Den muss ich wirklich gut verstecken. Dann fällt mir ein, dass ich schon des Öfteren Süßigkeiten versteckt habe – sei es meine geliebten Meeresfrüchte oder Weihnachtssüßigkeiten für die Kinder – und sie dann nicht mehr wiedergefunden habe. Aber die Kinder dann irgendwann. Was für eine Horrorvorstellung.
Also lasse ich ihn vorerst auf dem Tisch stehen, obwohl mich dieser Anblick doch ein wenig irritiert. Und dann ist endlich Lissy an der Reihe. Ich bin so neugierig, wie sich das mit ihrem neuen Liebhaber entwickelt hat. Zu meinem Erstaunen ist aus dem neuen Lover – Leon – tatsächlich etwas Ernstes geworden. »Weißt du, Annie, mit ihm könnte ich mir sogar vorstellen, zusammen zu leben.« Jetzt ist sie es, die ins Schwärmen kommt. So kenne ich Lissy gar nicht. Es hat sie echt erwischt. »Ist das nicht ein bisschen früh?« Lissy rudert etwas zurück. »Naja, nicht sofort. Aber wir verbringen jede freie Minute miteinander, er ist ein wunderbarer Koch….« Aha, ich hatte also doch nicht unrecht mit meiner Vermutung, was Lissys Taillenumfang angeht. »… und erst der Sex!« Jetzt muss ich lachen. Doch noch die Alte.
»Mensch, Lissy, ich freue mich so für dich.« Dann fallen mir Lissys Worte ein, die mich damals völlig verunsichert haben, als ich Michael kennenlernte. Im Grunde würde ich ihr jetzt gerne die gleiche Frage stellen: Wo ist der Haken? Aber da ich mich nur zu gut erinnere, welche Gefühle und Zweifel ihre Worte damals in mir ausgelöst haben, entscheide ich, dies nicht zu tun. »Und ihr habt euch noch nie gestritten? Oder unterschiedliche Meinungen gehabt?«, ist alles, was ich bereit bin, zu fragen. »Nö, es passt einfach perfekt.« »Darauf trinken wir jetzt.« Da Lissy noch fahren muss, ist sie zwischenzeitlich auf Cola umgestiegen, aber ich genieße ein weiteres Glas meiner Köstlichkeit.
Apropos Köstlichkeit. Ob ich will oder nicht, mein Blick schweift immer wieder zu diesem peinlichen Schokoteil. Ich kann sowieso nicht die Finger von Schokolade lassen. Und jetzt steht sie genau vor meiner Nase so verlockend und ruft mich förmlich. Gestern hat mir eine Freundin eine WhatsApp geschickt, die ich nur zu gut nachfühlen konnte: Wenn ich Schokolade sehe, höre ich zwei Stimmen in mir. Die eine sagt: Los, iss mich! Die andere sagt: Hast du nicht gehört, du sollst mich essen. Genau so fühle ich mich gerade. Ich kann ihn ja mal auspacken und daran schnuppern. Ich liebe den Geruch von Schokolade. Als meine Hand zu meinem Geschenk wandert, sehe ich Lissys verschmitztes Gesicht. Sie macht es mir leicht und sagt: »Wenn wir ihn jetzt essen, musst du ihn nicht mehr verstecken und brauchst keine Angst zu haben, dass ihn jemand entdeckt.«
Das ist ein gutes Argument. Die Vorstellung, dass Lissy mit isst, gefällt mir und nimmt mir den letzten Zweifel. Entschlossen öffne ich die Packung und nehme das harte, glänzende Teil heraus. »Willst du zuerst?« Ich halte ihr das Schokoteil vor die Nase. »Nein. Ladies first«, wehrt sie ab. Ohne darüber nachzudenken, schnuppere ich kurz daran, um dann herzhaft die Spitze abzubeißen. »Aua«, brüllt Lissy, lacht schallend und gleichzeitig werde ich von einem hellen Licht geblendet. Hat sie jetzt etwa ein Foto gemacht? Ich sehe nach oben, den Mund voller Schokolade und das gute Teil noch in der Hand, und sie hält tatsächlich ihr Smartphone in der Hand. Und macht direkt noch einen Schnappschuss hinterher.
»Lissy, hör sofort auf damit. Das löschst du auf der Stelle wieder, hast du mich verstanden?« Blitzartig hüpfe ich zu ihr auf die Couch und versuche, ihr das Telefon wegzunehmen. »Schon gut, schon gut, ich lösche es.« Das beruhigt mich. »Aber erst will ich es sehen.« Jetzt bin ich neugierig. Lissy tippt auf ihrem Display herum und zeigt mir das Foto. »Ach du Scheiße. Wenn das in die falschen Hände käme.« »Soll ich Facebook?«, fragt sie allen Ernstes und hält sich den Bauch vor Lachen. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hat, beißt auch sie ein großes Stück ab. Wenn ich ehrlich bin, schmeckt die Schokolade gar nicht so gut wie sie aussieht. Lissy ist ganz meiner Meinung. »Das war leider ´ne Mogelpackung. Hält nicht das, was sie verspricht. Wie so oft im Leben.«
Am Ende dieses ausgelassenen Abends sind wir uns allerdings einig, dass es uns beiden gerade so gut geht, wie lange nicht. Lissy hat es tatsächlich geschafft, dass sogar Sam sich für den Rest des Tages komplett aus meinen Gedanken verflüchtigt hat. Leider schleicht er sich jedoch bereits beim Zähneputzen wieder in meinen Kopf. Prompt spüre ich heftiges Magendrücken. Immer wieder sehe ich dieses flehende, traurige Gesicht vor mir. Das lässt mich lange nicht in den Schlaf finden.
»Da kommt Papa.« Tom ist als Erster zur Tür gelaufen und reißt sie auf, um seinen Vater stürmisch zu begrüßen. Schön zu sehen, wie sehr er sich auf seinen Papa freut. Nachdem ich ihnen einen Augenblick alleine gegeben habe, gehe ich nun auch zur Tür, um Paul hereinzubitten. »Magst du einen Kaffee?« Ich halte ihm die Haustür auf und lade ihn mit einer Handbewegung ein, in die Küche zu kommen. Er scheint mit sich zu kämpfen, ob er das Angebot annehmen soll. Doch tatsächlich folgt er meiner Einladung und kommt mit an den Frühstückstisch. Tom ist ganz begeistert angesichts der fast friedlichen Stimmung.
»Darf ich dir meine Schultüte zeigen, Papa? Die hab ich selbst gebastelt. Das ist ein richtiger Drache, so wie auf meinem Schulranzen.« Tommy kann seine Begeisterung nicht zurückhalten. Er nimmt Pauls Hand und versucht, ihn mit sich zu ziehen. »Komm mit hoch, ich zeig sie dir.« Um es Paul zu erleichtern, füge ich ebenfalls hinzu: »Ja, geht ruhig rauf.« Doch Paul entzieht ihm seine Hand. »Dafür müssen wir doch nicht extra hoch gehen. Die sehe ich doch bei deiner Einschulung.« Ist das zu glauben? Tom gibt nicht auf. »Dann hole ich sie runter. Warte.« Bevor Paul etwas antworten kann, ist Tom schon verschwunden. »Bring Benny mit nach unten.« Anscheinend hat mein Großer noch nicht mitbekommen, dass sein Vater vorgefahren ist.
»Bleibt es wie besprochen bei der Einschulung? Wir trinken hier gemeinsam einen Kaffee mit Omas und Opas und den Paten? Ich mache ein paar belegte Brötchen und backe einen Kuchen.« Paul verzieht das Gesicht. Anscheinend gefällt ihm die vor den Ferien abgestimmte Variante nicht mehr. Mein Gefühl ist, dass er sich hier einfach nicht so wohl fühlt, was ich ja im Grunde auch verstehen kann. »Bei Bennys Einschulung waren wir alle zusammen Mittagessen. Könnten wir ja auch irgendwo machen.« Da hat er natürlich Recht. Obwohl ich nicht glaube, dass es Tom etwas ausmachen würde. Erstens kann er sich daran sowieso nicht erinnern, und zweitens würde er sicher auch gerne zu Hause feiern.
»Ja, wäre auch eine Möglichkeit. Ist aber natürlich ein ganz anderer Kostenfaktor, als wenn wir es hier machen«, gebe ich zu Bedenken. »Wenn wir das teilen, ist das doch machbar.« Mir wird etwas mulmig bei dem Gedanken daran, 10 erwachsene Personen und 2 Kinder in einem Restaurant zu verköstigen. Ich will aber nicht schon wieder den Frieden in Gefahr bringen. »Na gut, ich frage mal nach einem Tisch für diesen Tag. Ist es dir Recht, wenn wir zu Dreckmanns gehen? Da, wo ich arbeite.« Vielleicht habe ich Glück, und meine Chefin macht uns einen guten Preis. Er nickt zustimmend. »Ja, mach den Tisch direkt fest.«
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