Es dauerte eine Weile, bis sie endlich die Straße erreichten. Immer wieder zwang sie der dichte Dschungel zu Umwegen, wenn es an bestimmten Stellen kein Durchkommen durch das Dickicht gab. Verschwitzt und mit Schrammen übersäht traten sie schließlich ins Freie. Ein Hauch von Zimt und Muskat lag in der Luft. Nicht umsonst nannte man Grenada die ‚Gewürzinsel’. Der beständig wehende Passatwind trieb den Duft von den Plantagen im Norden über das Land. Er machte auch die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit erträglich.
Die Küstenstraße war nicht viel mehr als eine breite, festgetretene Schneise im Urwald. Spuren von Hufen und Karren waren in die trockene Erde eingebrannt. Jetzt im Oktober, inmitten der Regenzeit, kam es immer wieder vor, dass heftige Regengüsse die Straße in ein kaum passierbares Meer aus Schlamm verwandelten. Zum Glück dauerten die Schauer nie besonders lange an, und die Tropensonne sorgte dafür, dass die Wege rasch wieder begehbar wurden.
Charles und Emma wandten sich gen Süden.
„Es ist vielleicht besser, wenn du niemandem erzählst, dass wir uns begegnet sind“, begann sie auf einmal.
Seit ihrem Aufbruch vom Strand hatten sie so gut wie nicht gesprochen.
„...am besten wird sein, du erzählst überhaupt nichts von dem Angriff gestern!“
„Aber man wird mich doch fragen“, entgegnete Charlie. „Man wird sich wundern, dass außer mir niemand heimgekehrt ist.“
„Sag einfach, das Schiff sei gesunken ... etwas in der Art ... das Schiff ist gesunken, und du bist als einziger davongekommen. Lass dir was einfallen! Das Wichtigste ist, erzähl niemandem von mir!“
Charlie nickte betreten.
„Das heißt dann wohl, dass wir uns nicht wiedersehen?“
Er ließ den Kopf hängen.
„Hey, guck nicht so“, sagte Emma sanft. „Vertrau mir ... es ist besser so! Es ist gut möglich, dass die Attacke mir gegolten hat...“
Charlie seufzte und zuckte mit den Achseln.
„...und was immer du tust ... sei wachsam, Plum!“
Stumm gingen sie weiter, bis sie schließlich eine Kreuzung erreichten. Aus östlicher Richtung mündete hier der Weg von der Rumbrennerei. Ein mit Fässern beladener Eselskarren kam von dort auf sie zu.
„Nach Coopersville geht es...“
Ehe er ausgesprochen hatte, musste Charlie feststellen, dass Emma verschwunden war. Er blickte sich um. Nirgends eine Spur von ihr. Er war allein auf der staubigen Straße. Kein Zweig regte sich im angrenzenden Wald.
Noch einmal seufzte er tief.
Sie hätte wenigstens Lebewohl sagen können!
Niedergeschlagen nahm er den Weg nach Westen — nach Hause.
„Na, wenn das nicht Charlie Plumpton ist!“
Ratternd hatte der Eselskarren zu ihm aufgeschlossen. Auf dem Kutschbock saß ein dicker Mann in Hochwasserhosen, verschlissener Weste und einem zerfransten Strohhut.
„Mr. Barthelmé!“
Seit Charlie sich zurückerinnern konnte, hatte der Mann die Rumlieferungen für das heimische Gasthaus getätigt.
„Mein Gott, Charlie! Was ist denn mit dir passiert?“ Schmunzelnd musterte ihn der Dicke, schmutzbeschmiert, wie er war: die Stirn zerkratzt, sein Hemd zerrissen. „Bist du in der Wildnis verloren gegangen?“
„So ähnlich...“
„Komm, spring auf! Ich fahre sowieso in deine Richtung!“
Charlie kletterte auf den Wagen.
Barthelmé schwang eine dünne Peitsche, worauf sich der Esel blökend in Bewegung setzte.
„Seit wann bist du wieder zu Hause?“
„Gerade erst angekommen“, gab Charlie zur Antwort.
„Oh ... das wusste ich nicht.“ Irgend etwas schien Barthelmé unangenehm zu sein. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz umher.
„Stimmt was nicht?“ fragte Charlie.
„Ah ... ach nichts!“ winkte Barthelmé ab. „Du weißt ja, wie es ist ... ein ständiges Auf und Ab ... mal gewinnt man, mal verliert man. Letzte Woche, zum Beispiel, hat es fast jeden Tag geschüttet wie aus Eimern ... kannst dir ja vorstellen, wie da die Straßen ausgesehen haben! Bin kaum noch mit meinen Lieferungen nachgekommen! Aber, glaubst du, die Leute hätten Verständnis dafür? Meckern und meckern...“
In diesem Stil plapperte er weiter, bis sie schließlich das Dorf erreichten.
„Danke fürs Mitnehmen, Mr. Barthelmé“, sagte Charlie und sprang vom Bock.
„Keine Ursache“, erwiderte dieser. „Du kannst John ausrichten, ich komme auf dem Rückweg vorbei und bringe seine Sachen.“
„Mach ich.“
Das Gespann setzte sich wieder in Trab.
Es fühlte sich seltsam an, nach den Monaten auf See wieder daheim zu sein. Alles war wie immer, und doch kam man sich irgendwie fremd vor.
Sein Bündel in der einen Hand, die andere in der Hosentasche, schlenderte Charlie den Weg zum Gasthaus entlang. Vorbei an den vertrauten Fassaden der bescheidenen Häuschen. Vorbei am Schweinepferch des alten Donnelly mit seinem dampfenden Misthaufen. Die Leute grüßten ihn freundlich, auch wenn sein ramponiertes Erscheinungsbild den einen oder anderen befremdlichen Blick auf sich zog. Gackernd liefen ein paar von Mrs. MacMillans Hühnern über die Straße. Offenbar hatte diese ihren Hühnerstall noch immer nicht reparieren lassen. Vorbei an der Hütte von Rupert, dem Nachtwächter, der jeden Abend auf ein Bier ins ‚Journeymen’s’ kam, nachdem er die Laternen im Dorf angezündet hatte. Hammerschläge drangen aus O’Neills Schmiede und der Werkstatt von Mr. Strickland, dem Küfer. Der verrückte Bauer Hollum führte wie jeden Tag seine beste Milchkuh spazieren.
Dann endlich stand er vor dem heimischen Gasthof. ‚The Journeymen’s Table’ war eine umgebaute hohe Scheune. Tagsüber — so auch heute — waren die großen Tore weit geöffnet, damit Licht und Luft in den Schankraum dringen konnten. Zur rechten Seite und nach hinten heraus hatte es Anbauten aus Ziegel. Darin befanden sich Küche, Wohnräume und Gästezimmer.
Ein Aufschrei des Entzückens erklang aus dem Inneren der Schenke. Eine Frau mit wallendem rotbraunem Haar hetzte heraus. Sie trug ein verschlissenes hellblaues Arbeitskleid. Sie streifte ihre Holzschuhe ab und rannte barfuß auf ihn zu.
„Charlie! Oh, Charlie!“
Stürmisch fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn derart fest an ihren üppigen Busen, dass ihm zunächst die Luft wegblieb.
„Oh, Charlie! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“
Wild bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen.
Katrina Jørgensen war völlig außer Atem, als sie schließlich von ihm abließ. Ihre ältere Schwester Anna und deren Ehemann, John Miller, führten das ‚Journeymen’s’. Sie hatten drei Kinder: John Jr. (10), Oskar (8) und Rachel (5). Damals in New Manchester waren die Plumptons und die Jørgensens Nachbarn gewesen. Nach dem verheerenden Vulkanausbruch war man zusammengeblieben und hatte sich schließlich hier in Coopersville niedergelassen. Charlies Vater, Nicholas, richtete sich im Hinterhof des Gasthauses eine kleine Tischlerwerkstatt ein.
Katrina war ebenfalls kurz verheiratet gewesen. Einen Tag, bevor sein Schiff in See stach, gab sie dem jungen Matrosen Billy Parker das Ja-Wort. In der Hochzeitsnacht war dieser allerdings zu betrunken, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Und am nächsten Morgen brach er zu einer Reise auf, von der er nicht zurückkehren sollte. Gut sieben Jahre war das jetzt her. Katrina blieb bei ihrer Schwester und half im Gasthof aus. Von Männern hatte sie vorerst die Nase voll. Die Leute im Dorf fanden das nicht natürlich. Schließlich war sie nun fast Dreißig!
Charles und Katrina hatten von jeher ein inniges Verhältnis. Sie wuchsen auf wie Bruder und Schwester. Doch als Charlie älter wurde und zum Mann heranreifte, änderte sich etwas. Auf eine unausgesprochene Art und Weise fühlten sie sich plötzlich zueinander hingezogen. Einmal hatte er sie heimlich beim Baden beobachtet. Er war sich sicher, dass sie ihn bemerkt hatte. Trotzdem wandte sie sich nicht ab, während sie aufrecht in der Wanne stand und ihre prallen Rundungen wusch. Als sie sich danach im Haus begegneten, errötete sie.
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