Jo W. Gärtner
Verloren
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jo W. Gärtner Verloren Dieses ebook wurde erstellt bei
Wach bleiben
Auflösen
Verloren
Sie wollen mir Flügel geben
Über Grenzen
Im Fluss
Vorschau
Impressum neobooks
Wach bleiben! Wach bleiben! Wach bleiben! Hart schlägt er sich gegen den Kopf. Nochmals. Stärker! Nicht einschlafen. Nur nicht einschlafen. Nie wieder! Wasser, kaltes Wasser über seinen Kopf. Das vertreibt die Müdigkeit, macht den Kopf klar. Nur nicht wieder einschlafen! Draußen ist es dunkel. Nacht. Alles schläft. Schon seit Stunden. Er schlurft in die Küche. Mit zitternden Händen greift er zur Kaffeemaschine. Sie ist immer an. Kaffee ist Leben. Kein Kaffee heißt Schlaf. Schlaf bedeutet Tod. Er will nicht sterben! Nein, nein, nein. Also wach bleiben. Er muss wach bleiben, will er nicht sterben.
Ein grauenvoller Anblick ist das im Spiegel. So blass die Haut, irgendwie körnig, tiefe Furchen. Die einzige Farbe ist das Schwarz unter den Augen. Die Beine geben nach. Er muss sich setzen. Aufs Sofa. Der Fernseher zeigt billige Quizsendungen – wie tröge – zapp – Wiederholungen von Richtershows – zum Einschlafen – zapp – die Erde aus dem Weltall untermalt mit harmonischer Musik – er schläft. Nein, nicht schlafen! Aufwachen! Kaffee schwappt über die Hose. Er schreit. Es ist heiß. Aber es ist gut, jetzt ist er wach. Raus! Er muss raus an die frische Luft.
Es ist vier Uhr morgens. Kein Mensch auf der Straße. Der Wind pfeift eisig. Das ist Leben. Er wandelt durch Häuserreihen, ein fahler Geist. Laternen schaukeln über den Straßen, werfen tanzende Schatten der Bäume an die Häuser. Gierige Arme greifen nach ihm. Nicht hier auch. Er beginnt zu laufen. Nicht hier auch noch. Er ist doch wach. Es sind nur Bäume, nur Bäume. Er schwitzt, obwohl es eiskalt ist.
Ein Bild von ihm. Er bleibt stehen, betrachtet das Bild, liest den Text. Sie suchen ihn. Er lächelt. Sie suchen ihn immer noch.
„Ihr kriegt mich nicht!“, schreit er und lacht laut auf.
Nein, sie kriegen ihn nicht. Schon seit Wochen nicht. Nicht die, die ihn jagen. Aber sie kriegen ihn im Traume. Sie, die er jagte. Immer. Sie kriegen ihn immer und er kann nicht fliehen. Ist festgebunden im Schlaf. Muss wach bleiben. Ist er wach, kriegen sie ihn nicht.
„Sie sehen grauenvoll aus“, sagt der Chef.
Es ist grauenvoll. Ich bin grauenvoll, denkt er. Er versucht zu lächeln. Blasse Lippen bleiben reglos. Kein Lächeln. Eine Maske aus kaltem Grau. Mehr ist er nicht mehr.
„Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich mal aus“, grunzt der Chef.
Nein! Nicht schlafen! Nicht schlafen! Er muss hier bleiben. Arbeiten. Irgendetwas tun. Irgendwas. Mit Leuten reden. Den Bleistift durch die Finger drehen. Am Computer arbeiten.
Er ist allein im Büro. Der Monitor flimmert ihn an. Monoton. Buchstaben verschwimmen. Der Stuhl ist weich und bequem. Die Lider sind schwer wie Blei, unmöglich sie auf zu halten. Sie fallen zu. Er sinkt zurück. Es wird dunkel.
Dunkel ist’s im Wald. Kein Lüftchen regt sich. Alles liegt stumm und starr, tot, versteckt sich, lauert. Leise streift er durch das Gebüsch, fühlt die weichen, kalten Blätter über seine Wangen huschen. Kein Geräusch gibt er von sich. Er ist ein Jäger. Am Waldrand, dort wo der See beginnt, ist die Nacht heller. Der Mond bepinselt das Ufer sanft mit fahlem Licht. Sie liegen da und schlafen fest. Marmorne Glieder in bizarren Winkeln von sich gestreckt. Er ist wieder da. Immer kehrt er wieder zurück. Immer steht er da und sieht, wie sie friedlich daliegen, die feinen Körper, ganz weiß. Schnitte im Bauch. Der Hals ist rot. Und wie immer fährt plötzlich Leben in die Glieder, sie rucken, sie zucken, die Oberkörper fahren nach oben, sie stehen auf. Die Köpfe wackeln auf durchtrennten Hälsen. Sie erkennen ihn, schauen ihn an. Schwarz sind ihre Augen, leere Höhlen, und doch kann er ihren Blicken nicht entweichen. Seine Füße sind Steine. Er will weg, kann nicht weg. Er muss hier weg. Sie setzen sich in Bewegung, kommen auf ihn zu, schwarze Augen, Löcher, sie greifen nach ihm…
Nein! Schreiend fährt er hoch. Sein Herz schlägt wie verrückt. Schweiß perlt auf seiner Stirn. Der Monitor flimmert. Das Büro ist weiß und leer. Nicht schlafen! Verdammt nochmal nicht schlafen! Ein Bleistift, gespitzt. Er sticht ihn sich in die Hand, Schmerz durchfährt ihn, er ist wach. Nur nicht wieder einschlafen. Nie wieder! Lieber schlaflos leben, als schlafend sterben!
Koffeintabletten. Aspirin. Eine Banane. Kaffee. Wasser. Die Waren zuckeln auf dem Band. Biep, biep, biep.
„7 Euro und dreißig Cent macht das“, sagt die Kassiererin und schaut ihn an. „Oh Gott, geht es Ihnen gut? Sie sind so blass!“
„Mir geht’s gut. Jaja, mir geht’s gut“, murmelt er monoton.
„Ich glaube, Sie sollten mal wieder schlafen“, meint die Kassiererin.
„Nein, nicht schlafen!“, brüllt er und packt die Frau am Kragen, zieht sie zu sich und schüttelt sie heftig. „Nicht schlafen!“
Grob stößt der Sicherheitsmann ihn auf die Straße. Er taumelt, fällt fast, kann sich fangen. Er brüllt. Ist puterrot im Gesicht. Speichel in seinem Mundwinkel. Jetzt schnell nach Hause. Nicht noch mehr auffallen. Das Wasser in der Badewanne ist eiskalt. Das ist gut. Immer wach bleiben. Wie schon seit Tagen. Seit Wochen? Er weiß es nicht. Danach schaut er stehend fern. Das Herz rast plötzlich. Es sticht. Sticht, sticht. Der Atem geht heftig. Er muss sich setzen. Alle Kraft ist fort, die Glieder hängen herab. Nicht schlafen, will er rufen. Gegen den Kopf will er sich schlagen. Geht nicht. Die Hände hängen. Der Kopf hängt.
Stockfinster ist es im Wald, der still und ruhig daliegt. Nichts regt sich in ihm, nur ein einsamer Schatten huscht geräuschlos von Stamm zu Stamm. Zwischen den Bäumen sieht er schon das Mondlicht, das dort vorne über dem See scheint. Fahl ist es und taucht das Ufer in milchiges Weiß. Da liegen sie, die marmornen Körper mit ihren feinen Gliedern. Sie glänzen. Der Junge mehr als das Mädchen. Es hat mehr Stiche. Geometrisch angeordnet. Ihre Hälse sind rot. Sie sind ganz friedlich, die zwei. Sie genießen es, hier am Wasser zu liegen. Das hat er für sie gemacht. Die geschlossenen Lider öffnen sich, aus schwarzen Löchern starren sie ihn an. Sie wissen, wer er ist. Sie lassen sich Zeit. Er wird nicht weggehen. Er kann nicht weggehen. Die Füße steinern, unbeweglich. Sie gehen auf ihn zu, ihre verdrehten Glieder greifen nach ihm. Fasst mich nicht an! Fasst mich nicht an, will er schreien, doch die Lippen sind stumm. Panik erfasst ihn, als sie ihn berühren, doch er wehrt sich nicht. Da liegt er am Ufer. Sie stehen über ihm und lachen. Er ist nackt. Seine blasse Haut glänzt weiß im Mondeslicht. Sie haben Messer. Sie sind kurz, aber scharf. Sie lachen laut. Ihre Münder sind schwarz. Dann machen sie, was er damals mit ihnen gemacht hat. Stich um Stich, Schnitt um Schnitt. Schmerzen durchfahren ihn, als das Mädchen ihr Messer arbeiten lässt – ganz sorgfältig, akkurate Figuren. Schmerzen zerreißen ihn, als der Junge ihm nimmt, was man nur dem Manne nehmen kann. Er will ohnmächtig werden, als sie ihm die Glieder zertrümmern. Doch er wird nicht ohnmächtig. Alles spürt er, alles fühlt er. Seine Schreie wollen sein Trommelfell platzen lassen, doch die Nacht bleibt still. Er schreit und schreit und schreit, sie aber lachen nur aus schwarzen Mündern und vollenden ihr Werk. Sein Werk. Sie setzen die Messer an seinen Hals.
Er gilft, schreit, sitzt aufrecht im Bett. Das Laken nassgeschwitzt. Er springt auf, rennt mit dem Kopf gegen die Wand. Er soll doch nicht schlafen! Warum schläft er? Er tritt gegen die Tür, tritt nochmal und nochmal, bis sie bricht, rennt in die Küche, reißt die Schränke aus der Wand, Geschirr zerdeppert, laut, schrill. Er brüllt unentwegt, wirbelt im Kreis, rast zwischen Scherben und Schränken umher, schmeißt Teller und Vasen gegen Wände, trommelt gegen Türen, schlägt sich gegen den Kopf. Dann steht er schwankend da. Sinne schwinden. Er wimmert. Das Herz sticht. Raus hier! Frische Luft! Er läuft. Kies knirscht unter ihm. Das Herz pocht und sticht. Er muss sich setzen. Eine Parkbank.
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