Diese Aktion vor Publikum, der halbe Jahrgang des Lycée war eingeladen und einige haben das malheureuse Drama hautnah erlebt, ließ Odile noch heute die Schamesröte ins Gesicht steigen. Wie peinlich ist das denn? Statt einem Liebesgeständnis ein »Ich find Dich zum Kotzen.«. Anfangs tuschelten die Mitschüler natürlich. Später haben sie sich mit Sicherheit nur deshalb zurückgehalten, weil sie hofften, öfter hier feiern zu dürfen. Denn Odile hatte das Haus ziemlich oft für sich alleine. Odile ging Bernard dann allerdings eine ganze Zeit lang aus dem Weg. Er bemühte sich, über dieses peinliche Erlebnis hinweg zu gehen. Irgendwann war ein zwangloser Umgang miteinander dann auch wieder möglich. Aber diese verschenkte Zeit, hat vielleicht auch die allerletzte oder einzige Chance auf ein Zusammenkommen gekostet.
Nach dem Lycée haben sich beide aus den Augen verloren. Er studierte in Lyon Maschinenbau. Wollte etwas weiter weg, von zu Hause, weil er schon damals wusste, dass er den Landmaschinenbetrieb seines Vaters einmal übernehmen würde, auch wenn er sich selbst nicht im ölverschmierten Blaumann herumlaufen sah. Und Odile war mit dem Duft von Lavendel aufgewachsen. Für sie lag es immer auf der Hand, dass sie Naturwissenschaften in Aix-en-Provence studierte, und sich im weitesten Sinne der Landwirtschaft widmete.
Als beide wieder zurückgekehrt waren, in ihr provenzalisches Heimatdorf, mussten sie sich ihrem arbeitsreichen Erbe stellen. Bernard hatte das Weingut übernommen und auch wenn er es von einem Winzer leiten ließ, verbrachte er viel Zeit mit der Arbeit dort. Zudem betrieb er seine Schlosserei und tüftelte an Maschinen, die seine Weingewinnung optimieren und erleichtern sollten. Jeannine machte die Büroarbeit, seit sie die Wirtschaftsschule beendet hatte. Studieren wollte sie nicht und Bernard wusste, dass weder ein Studienabschluss noch eine Bürolehre die Arbeitsqualität von Jeannine beeinflussen würde. Sie war gut, mit oder ohne Diplom. Und sie war bald unentbehrlich. Für das Gut und für Bernard.
Odile hingegen löste die Großmutter auf der Lavendelfarm ab. Alle Arbeiten direkt am Feld, konnte die Oma nicht mehr übernehmen. Sie half nur noch bei der leichteren Arbeit, die im Sitzen auf dem Hof gemacht werden konnte oder gab ihre Geheimnisse preis, damit die Produkte ihre Qualität nicht verloren. Die Lavendelfarm hatte einen Ruf, weit über die Provence hinaus. Die Blüten wurden frisch oder getrocknet in verschiedene Länder exportiert. Und die hauseigenen Zubereitungen von der Seife bis zum Tee wurden von Touristen und Einheimischen gerne gekauft. Selbst die neuen kreativen Versuche, die Odile in den letzten zwei Jahren an den Start gebracht hatten, wurden angenommen und gut gekauft.
Ihre Hoffnung auf ein Leben mit Bernard hatte Odile nie aufgegeben. Dabei hätte das doch langfristig wohl bedeutet, dass einer von beiden, seinen Familienbetrieb hätte abgegeben müssen. Das Problem gab es bei Jeannine nicht. Sie hatte drei ältere Geschwister und stand nicht in der Verantwortung des kleinen Bauernhofes, den ihre Eltern hatten. Nun war sie mit Bernard in Urlaub gefahren und heimlich hatten sie dort geheiratet. Heimlich!
Ihr eigenes Seufzen riss Odile aus ihren Gedanken und sie widmete sich Madame Lavande, die mal wieder eine ausgiebige Fellpflege nötig hatte. So toll sie aussah mit ihren Löckchen, für ein freies Hundeleben mit Streiftouren durch Wald und Flur, war die Rasse nicht gemacht. Stundenlang entknotete Odile das Fell, zupfte Disteln und Gräser heraus und kämmte vorsichtig das Fell aus. Madame lag indessen und genoss diese Zuwendung schnarchend.
Pünktlich erwartete Henri Odile auf dem Hof. Er freute sich sehr auf die Führung durch die Produktionsräume und war gespannt, auf die festen Mitarbeiter, mit denen er zu tun haben würde. Odile hatte vom ersten Augenblick an, sein Interesse geweckt. Nicht nur als Mensch. Auch als Frau. Das kannte er gar nicht mehr. Nach seiner gescheiterten Ehe, war er der Romantik und der Zweisamkeit aus dem Weg gegangen. Wenn es sich ergab, wurden körperliche Bedürfnisse befriedigt, aber binden wollte sich Henri eigentlich nicht noch einmal in seinem Leben. Die Liebe für immer, gab es wahrscheinlich nur in irgendwelchen Schmonzetten und Hollywoodfilmen. Allerdings hatte er an Odile gestern bereits mehr Interesse gezeigt, als an allen Frauen mit denen er in den letzten drei Jahren zusammentraf. Und statt sich mit Antworten zufrieden zu geben, wurde sein Interesse immer größer. Nun ja. Er hatte neun Monate Zeit und musste nicht alles in zwei Tagen erfahren. Aber er hoffte sehr auf viele gemütliche Abende wie den gestrigen und überlegte, ob er Odile anbieten sollte, heute Abend für sie beide zu kochen.
»Entschuldigung Ongrieh-Olè, ich bin aufgehalten worden. Ein Winzer aus dem Elsass rief an und wollte verschiedene Dinge über Lavendel wissen. Es scheint so, als wenn der Aperol Spritz eine lila Konkurrenz bekommt, den Lavendel Spritz. Aber das interessiert Sie wahrscheinlich alles gar nicht.«
»Oh doch Odile. Ich bin wirklich beeindruckt, was man alles aus Lavendel herstellen kann und schon ganz gespannt, auf das, was ich gleich zu sehen bekommen werde.«
Odile konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Das aufrichtige Interesse ihres Gastes freute sie sehr. Außerdem erschien er Odile heute noch attraktiver als gestern. Komisch, dass sie für solche Wahrnehmungen offen war, bei ihrem Kummer über ihre einseitige Liebe zu Bernard, der nun für immer unerreichbar bleiben würde. Sie wies Henri den Weg über das Grundstück. Beginnen wollte sie im Lager, dort zeigte sich am ehesten, wenn einer ihrer Helfer ein Problem mit der mächtigen Lavendelduftwolke hätte, die dort über allem hing. Von leichten Beklemmungen bis zu gravierenden Atembeschwerden hatte sie alles schon erlebt. Allerdings wäre es fatal, wenn Henri nur draußen einzusetzen war, denn die Saison ging dem Ende entgegen und es gab draußen nicht mehr ganz so viel zu tun. Doch Henri überraschte mit einer erstaunlichen Freude an dem ausgeprägten Lavendelduft. Tief einatmend, rief er freudig aus: »Es riecht wie bei meiner Oma im Kleiderschrank. Überall hatte sie Säckchen mit Lavendelblüten. Ich habe das schon als Kind geliebt.« Nicht, dass Henri auf weitere Sympathiepunkte bei Odile angewiesen war, aber sein Konto wuchs stetig und gerade wurden ihm unermesslich viele Pluspunkte gut geschrieben.
»Das freut mich. Dann ist die Entscheidung für den Lavendel gar nicht unbedacht getroffen worden?«
»Nein. Ich habe mich bewusst entschieden. Natürlich hätte ich auch zu einem Weinbauern gehen können. Aber dazu muss ich nicht in die Provence reisen. Die haben wir in Südbaden auch oder im nahen Elsass. Nein, ich habe mich für Lavendel entschieden, weil ich hier noch viel zu wenig drüber weiß. Die Arten, die es gibt und der Anbau, von der Saat bis zur Ernte. Das interessiert mich wirklich. Auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstversorgung und der Nachhaltigkeit. Ich möchte viel lieber Produkte kaufen, auf denen ausgewiesen ist, dass Lavendel oder andere gute Zutaten aus der Natur enthalten sind und nicht solche, wo drauf steht, was alles nicht drin ist.«
Odile lachte und zählte auf: »Das Shampoo ohne Erdöl, ohne Silikone, ohne Mikroplastik, ohne Alkohole und und und.« Henri lachte mit und nickte zustimmend. Diese Einstellung beeindruckte Odile und sie war gespannt, was Henri ihr noch alles an positiven Überraschungen bieten würde.
»Hier im Lager binden wir die Stängel zusammen. Einige von den sogenannten Schopflavendeln, werden dann einfach kurz unter den Blüten umgeknickt zusammengebunden und dann noch einmal kurz vor dem Ende der Stiele zusammen gebunden. Wenn das so trocknet, wird das wie ein Korb, indem die Blüten lagern. Das kann direkt so in Kleiderschränke gehängt werden oder auch in Toilettenräume. Der Duft, der verströmt wird, ist lange Zeit sehr intensiv. Und dekorativ ist so ein Gebinde auch. Bei dem Speiklavendel werden die kleinen Blüten abgezupft. Das macht meine Großmutter mit ihren Freundinnen immer noch gerne. Sie sitzen zusammen und schwatzen, trinken Lavendellikör und singen Volkslieder. Dabei zupfen die Finger die kleinen lila Punkte und sammeln sie in entsprechenden Behältern. Die in Lebensmittelqualität kommen in die weißen Behälter und werden frisch verarbeitet. In die grünen Behälter kommen die Blüten, die eine gute Qualität haben, aber besser zum Trockenen geeignet sind. Ob die dann in die Lebensmittel oder in die Kosmetik kommen, entscheiden wir nach dem Trocknen. Von ihnen exportieren wir einen Großteil. Übrigens ist einer unserer Abnehmer ein kleiner Kräuterhof im Kaiserstuhl nahe Breisach.«
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