›Wovon redet die? Ich brauche das alles nicht. Die Operation ist gut verlaufen, ich werde wieder gesund. Barrierefrei? Blödsinn.‹
»Sie sollten sich wirklich darum kümmern.«
»Ich habe keine Ahnung, wie ein Arbeitsunfall definiert ist, wie er sich von einem normalen Unfall unterscheidet.«
»Ein Arbeitsunfall ist es dann, wenn der Unfall während der Arbeit passiert ist, oder auf dem direkten Weg zu oder von der Arbeit.«
»Was heißt direkter Weg?«
»Wenn Sie zum Beispiel einen Umweg gemacht haben, um Zigaretten zu kaufen ...«
»Ich rauche nicht«, unterbreche ich.
»... oder um irgendwo etwas zu trinken ...«
»... war ich sicher auch nicht.«
»... dann könnten Sie ein Problem bekommen.«
»Da habe ich sicher keines, ich bin wirklich schnurstracks von der Firma zu mir nach Hause gefahren.«
»Was haben Sie in der Firma gemacht?«
»Ich habe etwas abgegeben, dann bin ich wieder nach Hause gefahren.«
»Dann sollte es ein Arbeitsunfall sein, schauen Sie nur, dass Sie das so schnell wie möglich belegen können.«
Ich wache auf, klingle mit dem Unterarm, bin fast ein bisschen stolz, wie gut das geht. Ein Pfleger kommt, 1,90, schlank, sportlich, er stellt sich als Mario vor und fragt mich, ob ich Hunger habe. Ich sage ja, wenig später kommt er mit einem Tablett.
»Ich werde Sie jetzt füttern, dann versuchen wir, ob Sie selbst trinken können.«
Ich muss fast lachen, 56 Jahre und muss gefüttert werden, wie ein Baby. Das Essen schmeckt gar nicht schlecht, dann frage ich ihn, wie das mit dem Gegenteil von Essen ausschaut. Er gibt mir eine Trinkflasche.
»Nein, ich habe eher gemeint, wie gehe ich aufs Klosett?«
Er lacht.
»In der nächsten Zeit gar nicht, das werden wir machen.«
»Sie gehen statt mir?«
Der Witz ist schlecht, aber immerhin, es ist einer, ich bin wieder halbwegs wach.
Er lacht trotzdem.
»Nein, Sie bekommen eine Leibschüssel.«
Ich schaue ihn ungläubig an.
»Das ist ja nicht Ihr Ernst?«
»Wenn Sie rechtzeitig spüren, dass der Stuhl kommt, können Sie uns ja rufen, ich fürchte aber, dass Sie es nicht spüren werden.«
Ich habe mich wieder in ein Baby verwandelt, muss gefüttert werden und mache ins Bett, unfassbar, das kann nicht sein. Wie auf Kommando geht es los, ich merke nur am Gestank, dass ich geschissen habe, spüre gar nichts.
»Haben Sie etwas gespürt?« fragt Mario emotionslos.
»Nein, ich rieche es nur.«
»Das ist gut, dann ist der Geruchssinn in Ordnung. Ich wasche Sie jetzt und dann machen wir das Bett neu, dann kann ich Sie auch gleich wenden. Auf welche Seite wollen Sie.«
Ich bin viel zu verblüfft und schockiert um ihm eine Antwort zu geben. Reinigen und Bettzeug wechseln geht routiniert und schnell.
»Schon erledigt«, sagt Mario keine fünf Minuten später.
Ich frage ihn, wie lange das dauern wird, er weicht aus, sagt, dass man das nicht so genau sagen kann, das hängt von der individuellen Entwicklung jedes Patienten ab. Er sagt, ich soll das nicht so ernst nehmen, es sind gerade zwei Tage nach dem Unfall, man kann noch nichts Genaues sagen, ich muss Geduld haben.
»Haben Sie eine empfindliche Haut?« fragt er plötzlich.
Ich schaue ihn verblüfft an.
»Nein, warum?«
»Wollen Sie einen Polster zwischen den Beinen, wenn Sie auf der Seite liegen?«
»Warum einen Polster?«
»Wenn Ihre Haut empfindlich ist, wird es unangenehm, wenn der Druck zu lange dauert. Deswegen kann ich Ihnen einen Polster zwischen die Beine stecken.«
Ich überlege.
»Na ja, sicher ist sicher. Probieren wir es einmal mit einem Polster.«
»Gut. Wie oft soll ich Sie in der Nacht umdrehen?«
»Warum wollen Sie mich umdrehen? Das kann ich doch selbst.«
Er schaut mich nachdenklich an.
»Das können Sie nicht.«
»Noch nicht«, sage ich.
»Ich schlage vor, wir versuchen es einmal mit einem Dreistunden Rhythmus«, sagt er nach ein paar Sekunden Schweigen.
»Okay. Mir ist es recht.«
»Am Nachmittag kommt übrigens eine Psychologin, mit der können Sie dann Ihre Probleme besprechen.«
Ich sage, ich habe keine Probleme, ich will wieder aufstehen und nach Hause gehen, was brauche ich eine Psychologin?
»Sprechen Sie mit ihr, es wird Ihnen gut tun.«
Dann kommen wir ins Reden, ich erzähle ihm was ich gemacht habe, er sagt, dass er nebenbei viel mit Computern arbeitet, in seinem Haus einen Server für alle Bewohner eingerichtet hat und so weiter. Wir haben eine gemeinsame Basis. Ich schlafe wieder ein.
Am Nachmittag wecken mich Stimmen, Schwester Maria kommt mit einer älteren Dame, Typ Wirbelwind, schlank. Sie stellt sich vor, ich kann ihren Namen nicht verstehen. Sie fragt, wie es mir geht, ich sage gut, sie fragt, ob ich Schmerzen habe, ich sage ja, ich bekomme aber Medikamente. Sie deckt mich ab, fährt in zirka fünf Zentimeter Entfernung mit der rechten Hand über meinen linken Arm, dann über das linke Bein, geht ums Bett und wiederholt alles auf der rechten Seite.
»Sie haben überall Energie, links etwas mehr als rechts, aber auch auf der rechten Seite und im rechten Bein ist Energie vorhanden.«
Ich frage sie, was das bedeutet.
»Es fließt Energie, nicht nur durch Ihre linke Seite, sondern auch rechts. Wenn Sie noch etwas von mir brauchen, sagen Sie es bitte den Pflegern, ich komme regelmäßig auf der Intensivstation vorbei. «
»Aber, bitte, was heißt, ich habe Energie?« versuche ich es noch einmal.
»Auf Wiedersehen«, sagt die Dame und wirbelwindet aus dem Zimmer.
Etwas verblüfft frage ich Maria.
»Wer oder was war das?«
Sie sagt, dass das die Psychologin war, ich glaube der Auftritt war Maria etwas peinlich.
»Und was heißt jetzt, dass ich Energie in den Beinen habe?« versuche ich es bei ihr.
»Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen«, antwortet Maria unbestimmt.
Ich sage, dass mir heiß ist und dass ich etwas Durst habe. Maria schlägt die Decke zurück dann drückt sie auf einen Knopf an einer Fernbedienung, die an der Seite des Bettes befestigt ist. Der Kopfbereich des Bettes hebt sich. Zusätzlich stützt sie meinen Oberkörper etwas hoch und hält mir eine Flasche mit einem Trinkhalm zum Mund. Ich sauge. Über die Flasche sehe ich nach unten und sehe einen Schlauch aus meinem Bauch ragen. Ich muss Husten, mir ist Wasser in die falsche Kehle gekommen.
»Was ist das?«
Ich deute mit einer Hand nach unten, ein Fehler, ich schlage ihr die Flasche aus der Hand. Egal, viel wichtiger ist: »WAS IST DAS???«
»Sie haben einen Katheter in der Blase.«
»Und?«
»Durch den Katheter rinnt der Harn ab.«
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Der nächste Tag, ein neues Gesicht.
»Ich bin die Gisela, ich bin Ihre Physiotherapeutin, ich werde Ihnen ziemlich bald tierisch auf die Nerven gehen.«
Ein cooler Einstieg, sie ist mir sofort sympathisch, sie ist auch wirklich ein einnehmender Typ. Sie lächelt immer, wenn sie nicht lächelt, lacht sie, Typ Sportlerin, drahtig, quirlig, schlank mit brauner Pagenfrisur. Ich frage, warum sie mir auf die Nerven gehen wird, sie sagt, sie wird mich ab jetzt täglich quälen, ich sage, von einer hübschen Frau lasse ich mich gerne quälen, sie lacht, wir verstehen uns auf Anhieb.
Sie fragt mich, ob ich glaube, dass ich mich aufsetzen kann.
»Warum soll ich mich nicht aufsetzen können, natürlich kann ich es.«
»Versuchen Sie es.«
Ich ziehe die Unterarme nach oben, versuche mich auf ihnen aufzustützen, komme aber keinen Zentimeter hoch. Ich probiere mich zur rechten Seite zu drehen, um mich mit der linken Hand abstützen zu können, bleibe aber, wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen.
»Ich kann mich wirklich nicht drehen«, sage ich, mehr verblüfft als frustriert zu Mario, der neben meinem Bett steht und meine Bemühungen ebenfalls beobachtet.
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