»Ich hoffe, es ist doch nichts mit Ihrem Nest geschehen, Herr Langbein,« sagte Akka.
Jetzt zeigte es sich, daß es wahr ist, was man zu sagen pflegt, daß nämlich ein Storch selten den Schnabel aufmacht, ohne zu klagen. Und der Umstand, daß es dem Storch schwer wurde, die Worte hervorzubringen, bewirkte, daß das, was er sagte, noch kläglicher klang. Er stand lange da und tat nichts als mit dem Schnabel klappern, und dann begann er mit heiserer, schwacher Stimme zu sprechen. Er klagte über alles mögliche: das Nest, das ganz oben auf dem Dachrücken von Glimminghaus lag, war von den Winterstürmen ganz zerstört worden, und Nahrung war bald nicht mehr zu finden. Die Bewohner von Schonen waren im Begriff, sich seines ganzen Besitzes zu bemächtigen. Sie entwässerten die Wiesen und machten seine Sümpfe urbar. Es sei seine Absicht, dies Land zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.
Während der Storch so jammerte, konnte Akka, die wilde Gans, die selber nicht die Stätte hatte, wohin sie ihr Haupt legen konnte, nicht umhin, im stillen zu denken: »Hätte ich es so gut wie Herr Langbein, da würde ich mich zu gut halten, zu klagen. Er ist noch heutigen Tages ein freier und wilder Vogel, und trotzdem ist er bei den Menschen so gut angeschrieben, daß niemand einen Schuß auf ihn abschießt oder ihm auch nur ein Ei aus seinem Neste stehlen würde.« Das alles aber behielt sie für sich. Zu dem Storch sagte sie nur, sie könne sich nicht denken, daß er von einem Hause fortfliegen wolle, auf dem, seit es erbaut war, Störche Wohnung gehabt hätten.
Da fragte der Storch plötzlich, ob die Gänse die grauen Ratten gesehen hätten, die nach Glimminghaus gezogen waren. Und als Akka antwortete, sie habe das Ungeziefer gesehen, begann er, ihr von den tapferen schwarzen Ratten zu erzählen, die seit vielen Jahren die Burg verteidigt hatten. »Aber in dieser Nacht wird Glimminghaus in die Gewalt der grauen Ratten gelangen,« sagte der Storch seufzend.
»Warum gerade in dieser Nacht, Herr Langbein?« fragte Akka.
»Weil fast alle Ratten gestern Abend nach Kullaberg gezogen sind,« sagte der Storch, »im Vertrauen darauf, daß auch alle andern Tiere dahin wollten. Aber Sie sehen, daß die grauen Ratten zu Hause geblieben sind, und nun rotten sie sich zusammen, um über Nacht, wenn Glimminghaus nur von einigen alten gebrechlichen Ratten verteidigt wird, die keine Kräfte mehr haben, mit nach Kullaberg zu wandern, in die Burg einzudringen. Sie werden ihr Ziel schon erreichen, aber nun habe ich seit so vielen Jahren in guter Nachbarschaft mit den schwarzen Ratten gelebt, daß ich keine Lust habe, auf demselben Hause zu wohnen, in dem ihre Feinde sich eingenistet haben.«
Akka begriff nun, daß der Storch so erbittert über die Handlungsweise der grauen Ratten war, daß er sie aufgesucht hatte, um sich über sie zu beklagen. Aber nach gewohnter Storchenart hatte er nichts getan, um dem Unglück vorzubeugen. »Haben Sie den schwarzen Ratten einen Boten geschickt, Herr Langbein?« fragte sie. – »Nein,« erwiderte der Storch, »was hätte das auch nützen können? Ehe sie nach Hause kommen, ist die Burg ja schon genommen.« – »Das dürfen Sie nicht so unbedingt glauben, Herr Langbein,« sagte Akka. »Ich kenne eine alte wilde Gans, die so eine Schandtat gern verhindern würde.«
Als Akka das sagte, erhob der Storch den Kopf und machte große Augen. Und das war nicht zu verwundern, denn die alte Akka hatte weder Schnabel noch Krallen, die zum Kampfe taugten. Außerdem war sie ein Tagvogel, und sobald es dunkel wurde, fiel sie unfehlbar in Schlaf, wahrend die Ratten gerade des Nachts kämpften.
Aber Akka hatte sich offenbar entschlossen, den schwarzen Ratten zu helfen. Sie rief Yksi von Bassijaure zu sich heran und befahl ihm, die Gänse nach dem Vombsee hinaufzuführen, und als die Gänse Einwände erhoben, sagte sie sehr bestimmt:
»Ich glaube, es ist das beste, wenn ihr mir alle gehorcht. Ich muß nach dem großen steinernen Haus hinfliegen, und wenn ihr mich begleitet, läßt es sich nicht vermeiden, daß die Leute auf dem Hofe uns sehen und uns niederschießen. Der einzige, den ich mit auf die Reise nehmen will, ist Däumling. Er kann mir von großem Nutzen sein, weil er gute Augen hat und sich des Nachts wach halten kann.«
Der Junge hatte gerade seinen eigensinnigen Tag, und als er hörte, was Akka sagte, streckte er sich, um so groß wie möglich zu sein und ging, die Hände auf dem Rücken und die Nase in der Luft, auf sie zu, um zu sagen, daß er wahrhaftig nicht behilflich sein wolle, die grauen Ratten zu schlagen. Sie möge sich anderweitig nach Hilfe umsehen.
Aber in demselben Augenblick, als sich der Junge blicken ließ, kam Leben in den Storch. Er hatte die ganze Zeit dagestanden, wie Störche zu stehen pflegen, mit gesenktem Kopf, den Schnabel gegen den Hals gepreßt. Aber nun konnte man es tief drinnen in seiner Kehle förmlich glucksen hören, als lache er. Blitzschnell senkte er den Schnabel, ergriff den Jungen und warf ihn vier, fünf Ellen hoch in die Luft empor. Dies Kunststück machte er siebenmal hintereinander, während der Junge schrie und die Gänse riefen: »Was tun Sie denn da, Herr Langbein, das ist doch kein Frosch! Es ist ein Mensch, Herr Langbein!«
Schließlich jedoch setzte der Storch den Jungen ganz unbeschädigt wieder hin. Dann sagte er: »Nun fliege ich wieder nach Glimminghaus zurück, Mutter Akka. Alle, die da wohnen, waren sehr bekümmert, als ich von dannen zog. Die werden sich freuen, wenn ich nun komme und ihnen erzähle, daß die wilde Gans Akka und der Menschenknirps Däumling unterwegs sind, um sie zu erretten.«
Bei diesen Worten streckte der Storch den Hals lang aus, schlug mit den Flügeln und sauste davon wie ein Pfeil, der von einem stramm gespannten Bogen fliegt. Akka begriff sehr wohl, daß er sich lustig über sie machte, aber davon ließ sie sich nicht anfechten. Sie wartete, bis der Junge seine Holzschuhe gefunden, die ihm der Storch abgeschüttelt hatte; dann setzte sie ihn auf ihren Rücken und flog hinter dem Storch drein. Und der Junge leistete keinen Widerstand und sagte kein Wort davon, daß er nicht mitwolle. Er war so wütend auf den Storch daß er förmlich dasaß und schnob. Der rotbeinige Bursche glaubte, daß er zu nichts zu gebrauchen sei, weil er klein war, aber er wollte ihm schon zeigen, was für ein Kerl Nils Holgersson aus Vemmenhög war.
Wenige Augenblicke später stand Akka in dem Storchennest auf Glimminghaus. Das war ein großes und schönes Nest. Als Unterlage diente ihm ein Rad, und darauf lagen mehrere Schichten aus Zweigen und Grassoden. Das Nest war alt, und viele Büsche und Kräuter hatten dort oben Wurzel geschlagen, und wenn die Storchenmutter in der runden Vertiefung mitten im Nest auf ihren Eiern saß, konnte sie sich nicht nur an der schönen Aussicht über einen großen Teil von Schonen erfreuen, sondern auch noch an den wilden Rosen und dem Huflattich, die in ihrem Nest blühten.
Der Junge wie auch Akka sahen sofort, daß hier etwas vor sich ging, was die gewöhnliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte. Auf dem Rande des Storchennestes saßen nämlich zwei Horneulen, ein alter, graugestreifter Kater und ein Dutzend uralter Ratten mit schiefen Zähnen und rinnenden Augen. Es waren nicht gerade solche Tiere, wie man sie gewöhnlich friedlich beieinander sitzen sieht.
Keins von ihnen wandte sich um und sah Akka an oder hieß sie willkommen. Die hatten keinen andern Gedanken als auf einige lange, graue Streifen hinabzustarren, die hier und da auf den winterkahlen Feldern sichtbar wurden.
Alle schwarzen Ratten verhielten sich still. Man konnte ihnen ansehen, daß sie in tiefe Verzweiflung versunken waren und sehr wohl wußten, daß sie weder ihr eigenes Leben noch die Burg zu verteidigen vermochten. Die beiden Eulen saßen da und rollten mit ihren großen Augen, drehten ihre Augenkränze und sprachen mit unheimlicher, heiserer Stimme von der großen Grausamkeit der grauen Ratten, um deretwillen sie nun aus ihrem Nest fliehen mußten, denn sie hatten gehört, daß sie weder Eier noch Junge schonten. Der alte gestreifte Kater war überzeugt, daß die grauen Ratten ihn totbeißen würden, und er schalt ununterbrochen auf die schwarzen Ratten: »Wie konntet ihr nur so dumm sein, eure besten Streitkräfte von dannen ziehen zu lassen!« sagte er. »Ihr müßt doch wissen, daß auf die grauen Ratten kein Verlaß ist! Das ist ganz unverzeihlich.«
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