Ein Kind kam und öffnete, und der Knirps sah sich in der Stube um. Mitten darin saß eine Frau, die den Gänserich festhielt, um ihm die Schwungfedern abzuschneiden. Ihre Kinder hatten den Gänserich gefunden, und sie wollte ihm kein Leides tun.
Sie wollte ihn nur zu ihren eigenen Gänsen hinauslassen, sobald sie ihm die Flügel gestutzt hatte, damit er nicht davonfliegen konnte. Aber es konnte dem Gänserich ja kein größeres Unglück widerfahren, und er schrie und jammerte aus Leibeskräften.
Ein Glück war es, daß die Frau nicht früher angefangen hatte zu schneiden. Jetzt waren nur zwei Federn vor der Schere gefallen, als die Tür aufging und der kleine Knirps auf der Schwelle stand. Aber so einen hatte die Frau noch nie im Leben gesehen. Sie konnte sich nichts anderes denken, als daß es der Koboldenvater in eigener Person sei, und vor Schrecken ließ sie die Schere fallen, schlug die Hände zusammen und vergaß, den Gänserich festzuhalten.
Sobald der sich frei fühlte, lief er nach der Tür. Er ließ sich keine Zeit, still zu stehen, packte aber in der Eile den Knirps beim Hemdbund und nahm ihn mit. Und auf der Treppe breitete er die Flügel aus und hub sich in die Luft empor. Gleichzeitig machte er eine flotte Bewegung mit dem Halse und setzte den Knirps auf seinen glatten Rücken hinauf.
So ging es mit ihnen dahin, in die Luft hinauf, und ganz Vittskövle stand da und starrte ihnen nach.
Den ganzen Tag, während die Gänse mit dem Fuchs spielten, lag der Junge in einem leeren Eichhörnchennest und schlief. Als er gegen Abend erwachte, war er sehr bekümmert: »Jetzt werde ich bald nach Hause geschickt, und dann läßt es sich ja nicht vermeiden, daß ich mich vor Vater und Mutter sehen lassen muß,« dachte er.
Aber als er die wilden Gänse fand, die auf dem Vombsee lagen und schwammen, sagte keine von ihnen ein Wort davon, daß er fort solle. »Sie finden am Ende, daß der Weiße zu müde ist, um heute Abend mit mir nach Hause zu fliegen,« dachte der Junge.
Am nächsten Morgen erwachten die Gänse beim ersten Tagesgrauen, lange vor Sonnenaufgang. Jetzt war der Junge fest überzeugt, daß die Heimreise vor sich gehen müsse, aber sonderbarerweise erhielten der weiße Gänserich und er Erlaubnis, die wilden Gänse auf ihrem Morgenausflug zu begleiten. Der Junge konnte gar nicht begreifen, was der Grund zu dem Aufschub war, aber dann fiel ihm ein, daß die wilden Gänse den Gänserich wohl nicht auf eine weite Reise schicken wollten, ehe er sich ordentlich satt gegessen hatte. Was nun der Grund auch sein mochte, er freute sich über jede Stunde, die verging, ehe er gezwungen war, seine Eltern wiederzusehen.
Die wilden Gänse flogen über das Schloß Övedkloster, das in einem herrlichen Park östlich vom See lag und sich prächtig ausnahm mit seinem schönen, gepflasterten Burghof, umgeben von niedrigen Mauern und Pavillons und seinem feinen, altmodischen Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Alleen, Teichen, Springbrunnen, schönen Bäumen und geradlinigen Rasenflächen, die mit bunten Frühlingsblumen eingefaßt waren.
Als die wilden Gänse in der frühen Morgenstunde über das Schloß flogen, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich hierüber sorgfältig vergewissert hatten, ließen sie sich über das Hundehaus herniederschweben und riefen: »Was ist das für eine kleine Hütte? Was ist das für eine kleine Hütte?«
Augenblicklich kam der Kettenhund aus seinem Haus, wütend und zornig, und bellte in die Luft hinauf.
»Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr denn nicht, daß es ein hohes Schloß aus Steinen ist? Seht ihr denn nicht, was für schöne Mauern es hat, seht ihr nicht, wie viele Fenster es hat, und große Tore und eine prachtvolle Terrasse? Wau, wau, wau! Also das nennt ihr eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof? Seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Treibhäuser, seht ihr nicht die Marmorsäulen? Nennt ihr das eine Hütte? Pflegen die Hütten einen Park zu haben, in dem Buchenwälder sind und Nußhaine und Waldwiesen und Eichenhaine und Tannenschonungen und ein Tiergarten voll von Rehen, wau, wau, wau? Nennt ihr das eine Hütte? Habt ihr jemals Hütten gesehen, die so viele Wirtschaftsgebäude rings umher haben, daß es aussieht wie ein ganzes Dorf? Kennt ihr viele Hütten, die eine eigene Kirche haben und einen Pfarrhof, und die über Rittergüter und Bauernhöfe und Pachterhöfe und Häuslereien gebieten? Wau, wau, wau! Nennt ihr das eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut in Schonen, ihr Lumpengesindel. Da, wo ihr in den Wolken hängt, könnt ihr kein Fleckchen Erde sehen, das nicht unter dieser Hütte steht. Wau, wau, wau!«
Dies alles rief der Hund in einem Atemzug, und die Gänse flogen über dem Schloß hin und her und hörten ihm zu, bis er gezwungen war, Atem zu schöpfen. Dann aber schrien sie: »Warum ereiferst du dich so? Wir fragten ja gar nicht nach dem Schloß, wir fragten nur nach deinem Hundehaus.«
Als der Junge diese Späße hörte, lachte er anfänglich, dann aber ergriff ihn ein Gedanke, der ihn plötzlich ernsthaft machte: »Denk doch, wieviel Kurzweiliges würdest du zu hören bekommen, wenn du mit den Gänsen durch das ganze Land fliegen dürftest, bis hinauf nach Lappland,« sagte er zu sich selbst. »Wenn du doch in das Unglück geraten bist, so wäre eine solche Reise das beste, was dir widerfahren könnte.«
Die wilden Gänse flogen auf eins der großen Felder östlich von dem Schloß, um Graswurzeln zu fressen, und damit beschäftigten sie sich stundenlang. Währenddessen ging der Junge in den großen Park hinein, der an das Feld stieß und guckte in die Büsche hinauf, um zu sehen, ob da nicht ein paar Nüsse vom Herbst her hängengeblieben sein sollten. Aber wie er da so im Park umherging, kehrte immer wieder derselbe Gedanke zu ihm zurück. Er malte sich aus, wie lustig es sein würde, wenn er mit den wilden Gänsen fliegen könnte. Hungern und frieren würde er wohl manch liebes Mal, aber dafür brauchte er dann ja auch nicht zu arbeiten und zu lernen.
Als er dort ging, kam die alte, graue Führergans auf ihn zu und fragte, ob er genug zu essen gefunden habe. Nein, sagte er, er hätte nichts gefunden. Da suchte sie ihm zu helfen. Nüsse konnte sie auch nicht finden, aber sie entdeckte ein paar Hagebutten, die an einem wilden Rosenbusch hingen. Der Junge verzehrte sie mit gutem Appetit, konnte aber nicht umhin, zu denken, was seine Mutter sagen würde, wenn sie wüßte, daß er jetzt von rohem Fisch und von alten überjährigen Hagebutten lebte.
Als sich die wilden Gänse endlich satt gegessen hatten, zogen sie wieder an den See hinab und belustigten sich bis gegen Mittag mit Spielen. Sie forderten den weißen Gänserich auf allen möglichen Sportgebieten zum Wettstreit auf. Sie schwammen um die Wette, liefen um die Wette und flogen um die Wette mit ihm. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde aber stets von den flinken wilden Gänsen geschlagen.
Der Junge saß während der ganzen Zeit auf dem Rücken des Gänserichs und ermunterte ihn und amüsierte sich ebensogut wie die andern. Das war ein Schreien und ein Gackern und ein Lachen, und es war wirklich unbegreiflich, daß die Leute im Schloß es nicht hörten.
Als die wilden Gänse des Spielens überdrüssig waren, flogen sie auf das Eis hinaus, um ein paar Stunden zu ruhen. Den Nachmittag verbrachten sie ungefähr auf dieselbe Weise wie den Vormittag. Zuerst ein paar Stunden Grasen, dann Baden und Spielen im Wasser am Rande des Eises bis Sonnenuntergang, worauf sie sich gleich zum Schlafen hinsetzten.
»Das wäre gerade so ein Leben, wie es mir passen würde,« dachte der Junge, als er unter den Flügel der Gans kroch. »Aber morgen werde ich gewiß nach Hause geschickt.«
Ehe er einschlief, lag er da und dachte darüber nach, daß, wenn er Erlaubnis erhielt, mit den Wildgänsen zu reisen, er um die Schelte hinwegkam, weil er so faul war. Dann konnte er sich den ganzen Tag umhertreiben und hatte keine andern Sorgen, als, wie er sich etwas zu essen beschaffte. Aber er hatte für den Augenblick ja nur so wenig nötig, damit würde er schon fertig werden.
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