Semjon begann die Jacke auszuziehen und drehte dabei den Ärmel um. Das Weib riß daran, daß alle Nähte krachten. Matrjona ergriff die Jacke, warf sie sich über den Kopf und rannte zur Tür. Sie wollte fort, blieb aber plötzlich stehen: ihr Herz war voller Wut; sie hätte aber doch gerne gewußt, wer der Fremde war.
IV.
Matrjona blieb also stehen und sprach:
»Wenn's ein guter Mensch wäre, wär' er doch nicht nackt. Der da hat ja nicht einmal ein Hemd an! Und wenn du ein reines Gewissen hättest, würdest du doch sagen, wo du den feinen Herrn gefunden.«
»Das sage ich dir gern: ich geh' meines Weges, da sitzt dieser Mann nackt an der Kapelle, halb erfroren. Es ist ja doch nicht Sommer. Gott hat mich zu ihm geführt, sonst wäre er umgekommen. Was tun? Es kommt viel vor in der Welt! Ich nahm ihn also, bekleidete ihn und brachte ihn her. Beruhige dich doch, Matrjona, sündige nicht, denke an die Stunde des Todes.«
Matrjona wollte wieder losschimpfen; da fiel ihr Blick auf den Fremdling und sie verstummte. Der Fremde sitzt da, unbeweglich, so wie er sich auf den Rand der Bank niedergelassen hat. Seine Hände sind auf den Knien gefaltet, sein Kopf ist auf die Brust herabgesunken, die Augen sind geschlossen, die Brauen zusammengezogen, als bedrücke ihn etwas. – Matrjona sprach kein Wort; Semjon aber sagte:
»Matrjona, hast du denn keinen Gott in dir?«
Matrjona hörte das Wort, blickte noch einmal auf den Fremdling, und plötzlich wurde ihr das Herz weich. Sie entfernte sich von der Tür, ging in die Ofenecke und holte das Nachtmahl, stellte eine Schüssel auf den Tisch, goss Kwas 1hinein, brachte das letzte Stück Brot herbei und reichte Messer und Löffel.
»Eßt!« sagte sie.
Semjon schob den Fremdling zum Tisch.
»Komm' näher, Bursche,« sagte er. Dabei schnitt er Brot ab, brockte es in die Schüssel, und sie begannen zu essen. Matrjona aber setzte sich an die Ecke des Tisches, stützte den Kopf in die Hände und blickte den Fremdling an. Und da erfaßte sie Mitleid mit dem Jüngling und sie gewann ihn lieb. Und plötzlich erheiterte sich das Gesicht des Fremden; er heftete seine Augen auf Matrjona und lächelte.
Sie hatten genachtmahlt. Die Alte räumte den Tisch ab und begann den Fremden auszufragen.
»Wo bist du wohl her?«
»Ich bin kein Hiesiger.«
»Wie bist du denn auf die Straße geraten?«
»Ich kann es nicht sagen.«
»Wer hat dich denn ausgeraubt?«
»Mich hat Gott gestraft.«
»Ganz nackt hast du also dagelegen?«
»Nackt lag ich da und fror. Semjon sah mich, erbarmte sich meiner, zog seinen Rock aus, gab ihn mir und hieß mich mit ihm gehen. Hier aber hast du mir zu essen und zu trinken gegeben und hast Mitleid mit mir gehabt, und Gott wird es euch lohnen.«
Matrjona stand auf, nahm das Hemd ihres Mannes, das sie eben geflickt hatte, und gab es dem Fremdling. Sie fand auch noch ein Paar Beinkleider und gab es ihm ebenfalls.
»Da nimm, ich sehe ja, du hast nicht einmal ein Hemd an. Kleide dich an und leg' dich nieder, wo du willst, auf der Bank oder auf dem Ofen.«
Der Fremdling zog den Rock aus, bekleidete sich mit dem Hemd und den Hosen und legte sich auf die Bank. Matrjona löschte das Licht, nahm den Rock und suchte die Lagerstatt auf, wo ihr Mann es sich bereits bequem gemacht hatte. Sie bedeckte sich mit dem Zipfel des Rockes, lag da und schlief nicht; der Fremde ging ihr nicht aus dem Kopf. Wenn sie daran denkt, daß er das letzte Stück Brot aufgegessen hat und daß für morgen gar nichts übrig geblieben ist, wenn sie daran denkt, daß sie ihm Hemd und Hosen geschenkt hat, so ärgert sie sich; wenn sie sich aber erinnert, wie er sie angelächelt hat, so hüpft ihr Herz vor Freude.
Lange lag Matrjona wach da; sie merkte, daß Semjon auch nicht schlief; er zog den Rock zu sich hinüber.
»Semjon!«
»Ja?«
»Das letzte Brot haben wir aufgegessen, und ich habe keinen frischen Teig angerührt. Weiß nicht, was ich morgen machen soll. Ich werde wohl bei der Gevatterin Melanie eines leihen müssen.«
»Wenn wir leben, werden wir auch zu essen haben.«
Das Weib lag eine Weile still und sprach kein Wort, dann begann sie wieder:
»Scheint doch ein guter Mensch zu sein, – aber warum erzählt er nichts von sich?«
»Wahrscheinlich kann er nicht.«
»Semjon!«
»Ja?«
»Wir geben den andern, aber warum gibt uns denn niemand etwas?«
Semjon wußte nicht, was er antworten sollte.
»Genug des Redens!« sagte er, drehte sich um und schlief ein.
V.
Am andern Morgen erwacht Semjon. Die Kinder schlafen noch; die Frau ist zu den Nachbarn gegangen, um Brot zu leihen. Nur der Fremdling von gestern sitzt in den alten Hosen und im Hemd auf der Bank und schaut nach oben. Und sein Gesicht ist nicht so düster wie gestern. Da sagt Semjon:
»Nun, mein Lieber, der Magen verlangt Brot und der nackte Körper Kleidung; man muß sich doch ernähren. Kannst du etwas arbeiten, was?«
»Ich kann nichts.«
Semjon wunderte sich und sprach: »Wenn du nur Lust dazu hast, der Mensch kann alles erlernen.«
»Der Mensch arbeitet, so werde auch ich arbeiten.«
»Wie heißt du denn?«
»Michael.«
»Nun, Michael, du willst mir nichts über dich sagen, das ist deine Sache; aber essen muß der Mensch. Wenn du arbeiten willst, was ich dir auftrage, so werde ich dir zu essen geben.«
»Vergelt's dir Gott! Ich werde lernen. Zeig' mir nur, was ich machen soll.«
Semjon nahm Pechdraht, legte ihn um den Finger und machte einen Knoten.
»Die Sache ist nicht schwer, sieh nur zu.«
Michael sah zu, nahm ebenfalls Pechdraht und machte alles genau so wie der Schuster.
Nun zeigte ihm Semjon, wie man die Sohle anbringt. Auch das begriff Michael sofort. Der Meister zeigte ihm alle Handgriffe, und alles begriff Michael; so ging es mit jeder Arbeit, und vom dritten Tage an arbeitete er, als wenn er sein Lebtag Schuster gewesen wäre. Er arbeitet ununterbrochen, ißt nur wenig. Fehlt es an Arbeit, so sitzt er schweigend da und schaut nach oben. Er geht nicht auf die Gasse hinaus, er spricht kein unnützes Wort, er scherzt nicht und lacht nicht. Nur einmal hatten sie ihn lächeln sehen, damals am ersten Abend, als die Frau ihm das Nachtmahl gereicht hatte.
VI.
Es verging ein Tag nach dem andern – eine Woche nach der andern, ein ganzes Jahr. Michael lebte bei Semjon und arbeitete, und man begann von Semjons Gesellen zu erzählen, daß niemand so saubere und so feste Stiefel nähen könne wie er. Aus der ganzen Umgebung kamen die Leute, um bei Semjon Stiefel zu bestellen, und der Wohlstand des Schusters nahm immer zu.
Eines Tages im Winter sitzen Semjon und Michael bei der Arbeit. Da kommt eine Schlittenkutsche, von drei Pferden gezogen, mit Schellengeklingel vor das Häuschen gefahren. Sie schauen zum Fenster hinaus; der Schlitten hält gerade vor der Tür, ein junger Bursche springt vom Kutschbock und öffnet den Schlag. Aus dem Schlitten steigt ein Herr im Pelz; steigt heraus, geht auf Semjons Haus zu, schreitet die Treppe hinauf. Matrjona springt auf und öffnet die Tür weit. Der Herr bückt sich, tritt ins Zimmer und richtet sich wieder auf, so daß sein Kopf beinahe die Decke berührt. Die ganze Zimmerecke nimmt er ein.
Semjon erhob sich, verbeugte sich und staunte den Herrn an. Noch nie hatte er einen solchen Menschen gesehen. Er selbst war mager; auch Michael war schmächtig, und Matrjona gar, die war ausgetrocknet wie ein Span. Dieser Fremde aber sah aus wie ein Mensch aus einer andern Welt: ein dickes, rotes Gesicht, ein Nacken wie ein Stier, der ganze Mann wie aus Eisen gegossen.
Der Herr verschnaufte sich, zog den Pelz aus, setzte sich auf die Bank und sagte:
»Wer ist der Meister Schuster?
Читать дальше