„Das reicht dir nie,“ sagte meine Mutter, und zerrte alle von mir soeben verpackten Kleidungsstücke wieder aus meinen Reisetaschen heraus. „Ich mache das hier schon für dich,“ fuhr sie sanftmütig fort, „sonst gibst du zu viel Geld aus, weil du dir alles in Broadstairs neu kaufen musst.“ Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ich vertrödelte den letzten Abend vor meiner Abreise missgelaunt mit meinen Kumpels. Wir trösteten uns mit so vielen Pils, dass ich die erste Hälfte der mehrstündigen Busfahrt nach Calais am nächsten Morgen bierselig verschlief.
Auf der Fähre nach Dover wehte mir frischer Wind um die Nase. Einen Augenblick lang hatte ich in Calais gezögert. Ich hätte einfach meine zwei Reisetaschen aus dem Reisebus verlangen und mich aus dem Staub machen können, meine Freunde anrufen und ihnen sagen, dass ich bereits in Frankreich auf sie wartete... Aber dann entschied ich mich, ein wohlerzogener Sohn zu sein und ergab mich in das Schicksal eines klassischen Schülersommers in Broadstairs.
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Toll war´s wirklich nicht. Meine Englischgruppe bestand nicht nur aus Schülern meines Alters. Mein Vater hatte mich für einen gemischten Kurs aller Altersklassen angemeldet, der insbesondere einen Schwerpunkt auf Wirtschaftsenglisch setzte. Endlich der Schule entronnen --- und nun saß ich schon wieder in einer. Noch dazu im ersten Sommer meines Lebens, in dem ich unabhängig und frei von allen Verpflichtungen hatte dem Nichtstun frönen wollen!
Am Nachmittag setzte mich der Busfahrer nach einem ermüdenden Programm zwischen Teetrinken, Stundenplänen und einem ersten Spaziergang durch Broadstairs an der Ecke der kleinen Sheffield Lane in einem Dorf unweit von Broadstairs ab. Hier wohnte meine Gastfamilie, die mich jetzt erwartete, nur zwei Busstationen von der Schule entfernt. Ich lief direkt aufs Meer zu und nahm mir vor, noch am selben Abend hinunter an den Strand und zwischen den Felsen spazieren zu gehen.
Sie standen am Gartentor und erwarteten mich. Sie standen neben ihren wohlgepflegten Rosensträuchern, irgendwie würdevoll und wie ich es von einem bürgerlich ländlichen Abbild der königlichen Familie in den 1970-zigern halt nicht anders hätte erwarten können. Ein schafsähnliches Wollknäuel, das mir sogleich voller Stolz als der hauseigene Hund Jimmy vorgestellt wurde, warf mich beim Ansprung fast um und kläffte vor lauter Freude ganz ohrenbetäubend dabei.
Aber etwas anderes brachte mich noch viel mehr aus dem Gleichgewicht. Ihre Augen waren beunruhigend schwarz, ihr Blick so unergründlich wie ihr Lächeln, als sie mir zur Begrüßung die Hand reichte. Sie war die jüngste Tochter meiner Landlady. Sie hieß Bridget, und sie sah aus wie eine junge Elizabeth Taylor mit schwarzen Augen und weißer Haut. Vielleicht duftet alles in England irgendwie nach Lavendel, wenn man sich nur lange genug viktorianische Literatur reinzieht.
Vielleicht hatten sie auch tatsächlich irgendwo Lavendel im Garten, und in den Handtuchregalen ihres altmodischen Bades lag er ohnehin in kleinen Säckchen verschnürt zwischen Stapeln sauberen weißen Frottees. Aber wenn Bridget nahe an mir vorbeiging, wenn wir uns auf der halsbrecherischen kleinen Treppe, die zum Dachgeschoss führte, aneinander vorbei drängeln mussten oder sie mir morgens auf einem Tablett meine Tee ans Bett brachte, obwohl ich das hasste --- dann dachte ich, ich stünde in der Provence, tauchte ein in ein blühendes Lavendelfeld in einem heißen Sommer und fühlte, wie mir langsam schwindlig wurde und kleine Irrlichter vor meinen Augen tanzten.
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Es wurde ein wundervoller Sommer! Die Hälfte der Schulzeit schwänzte ich und stromerte stattdessen mit Bridget und ihrem alten Austin über die Landstraßen Englands zwischen eben all diesen lieblich grünen Hügeln hindurch, die gar nicht mehr so langweilig waren. Wie lange muss man neben einer englischen Prinzessin in einem englischen Auto durch englische Landschaften fahren, ehe man glaubt, man lebe seit König Arthurs Zeiten in diesem Land und müsse nur noch eine seiner wundervollen Urahninnen heiraten, um selbst ein echter König zu sein?
Natürlich war mir aufgefallen, dass Mutter Walker nicht ganz einverstanden mit dem Verhalten ihrer Tochter war. Oft, wenn ich schon ungeduldig draußen am Wagen auf Bridget wartete, bemerkte ich, wie die beiden Frauen aufgeregt mit einander zischelten. Sahen sie dann, dass ich ihren Zwist mitbekam, nahmen sie sich zurück und Bridget löste sich trotzig von der Bedrängnis durch ihre Mutter.
Ich liebte Bridget abends am Strand und im Austin und in welcher kleinen Frühstückspension auch immer wir das Wochenende miteinander verbrachten. Sie kam heimlich nachts in mein Zimmer, wenn ihre Mutter fest schlief und blieb bis zum Morgengrauen. Ich war 19 und zuhause in Deutschland war ich nichts als ein Kleinstadt-Pennäler mit gelegentlichen Schnellschussaffären nach samstäglichen Parties. Eine erste Jugendliebe hatte ich verlassen, als ich 17 war. Die Treulose hatte sich mit einem Nachbarn verlobt.
Jetzt war ich fast 19 und erwachsen und fest entschlossen, meine englische Prinzessin nie wieder los zulassen. Ich brannte lichterloh für sie und wenn ich ihren Kopf an meine nackte Schulter zog und mit meinen Händen ihre schwarzen Haare zerzauste, beschrieb sie mir, wie stark sie mein Herz schlagen hörte.
Etwas warnte mich stärker von Tag zu Tag, riet mir, ihr Fragen zu stellen, ihr meine Pläne mitzuteilen, aber alles schien so schwerelos und leicht, dieses einfach „mit ihr in den Tag hinein zu leben“, dass ich die mahnende innere Stimme immer wieder zurück in mein Unterbewusstsein verbannte.
Bridgets Mutter hatte resigniert. Sie behandelte mich englisch höflich, aber kühl, schließlich wurde mein dreimonatiger Logierbesuch in ihrem Haus ja auch gut bezahlt. Außerdem führte ich mich als angehender Schwiegersohn auf. Ich half beim Wäscheaufhängen, trug Einkäufe in die Küche, übernahm so unschönen Dinge wie das Kloputzen beim wöchentlichen Saubermachen und schaute nach dem Austin, wenn er muckte.
Mein Leben schien perfekt. Meine Zukunft klar. Ich würde Bridget heiraten. Ich würde in London oder in Oxford studieren, nicht auf irgendeiner piefigen deutschen Wirtschafts-Uni. Meine Zukunft lag in England. Ich musste es Bridget nur noch sagen.
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An einem heißen Augustwochenende brachen wir zu ihrer Großmutter nach Ingleton auf. An diesem Wochenende wollte ich mit Bridget über eine gemeinsame Zukunft reden. Ich saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, meine Hand auf der nackten Haut ihres Oberschenkels immer halb unter ihrem Rocksaum, und beobachtete ihr Profil, während sie aufmerksam und dennoch gelassen ihren alten Austin steuerte.
Bridgets Großmutter wohnte in einem kleinen Landhaus mit französischen Fenstern, die in einen romantischen und sehr gepflegten Garten hinausführten. Ich erhielt als Ehrengast ein altmodisches Zimmer mit Kamin und bestand bei Einbruch der Dämmerung darauf, diesen trotz abendlicher Hitze auch wirklich anzuzünden. Bridget lachte über mich, half mir jedoch, das Holz aufzustapeln. „Willst du mich heiraten?“ fragte ich sie, als sie neben mir vor dem Kamin hockte und mich zum wiederholten Male an diesem Tag unbändige Lust überkam, sie vor dem brennenden Feuer zu lieben. „Dummkopf,“ antwortete sie zärtlich, und in unserem Schäkern und Herumalbern ging meine Frage schließlich völlig unter.
Am späten Abend saßen wir mit zwei Nachbarinnen und Bridgets Großmutter am Tisch im Wohnzimmer zusammen. Die drei alten Damen tranken einen ziemlich strammen Brandy, der mir nicht schmeckte. Bridget hatte mir eine Dose Bier aus dem Kühlschrank geholt. Gemeinsam sahen wir den endlosen Patiencen zu, die sich vor Bridget und mir auf dem Mahagonitisch unter den flinken Händen der alten Damen aufblätterten. Insgeheim hoffte ich darauf, endlich in mein romantisches Kaminzimmer zu Bett gehen und Bridgets nächtlichen Besuch erwarten zu dürfen.
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