Ich wollte fliehen, konnte es aber nicht. Meine mit tiefen, blutenden Striemen übersäten Beine versagten mir den Dienst; sie bewegten sich keinen Millimeter mehr von der Stelle. Ich trommelte mit den Fäusten auf sie ein, als ob ich sie damit hätte aufwecken wollen. Aber ich spürte meine Schläge gar nicht erst auf ihnen. Doch das war nun sowieso egal: Die Kreaturen, die ich jetzt als die verwesten Überreste menschlichen Lebens erkannte, kamen immer näher. Ich schloss die Augen.
»Gleich ist es vorbei, Cara. Dann wird alles gut!« , versuchte ich mir einzureden. In derselben Sekunde wurde ich schon von der ersten Kreatur gepackt. Sie röchelte, geiferte und ich hörte jede schabende und knackende Bewegung ihrer Knochen, als sie begann, an mir zu zerren. Immer mehr kamen dazu und taten es ihr gleich. Ich spürte sie nicht, aber ich nahm sie deutlich wahr. Als ich meine Augen öffnete, sah ich, was sie mit mir anstellten: Die Kreaturen zogen an meinen Beinen, sie rissen daran, verdrehten sie, bissen in sie hinein. Ich musste hilflos dabei zusehen, wie sie mir meine unteren Extremitäten vollständig ausrissen und wie tollwütige Tiere darüber herfielen. Sie gruben ihre Mäuler wie von Sinnen hinein, rissen Fleischfetzen heraus und verzehrten sie schmatzend.
»Das alles muss doch ein Ende haben!« , flehte ich stumm. Doch weder ließen sie von mir ab, noch taten sie etwas anderes, als meine Beine aufzufressen. Aus irgendeinem Grund verschonten sie den Rest von mir, so dass ich gezwungen war, alles mitzuerleben.
Dann, nachdem sie auch den letzten Rest von meinen Beinen verschlungen hatten, zogen sich die Kreaturen langsam wieder zurück. Wie eine Schwarmintelligenz liefen sie rückwärts wieder in den Teich, aus dem sie empor gestiegen waren. Irgendwann war keine von ihnen mehr zu sehen. Das Blut färbte sich wieder zu Wasser und die Dampfschwaden verschwanden. Erst jetzt konnte ich die Augen schließen.
Als ich aufwachte, erkannte ich mir vertraute Strukturen. Ein schmales, helles Licht, Knöpfe und Kabel. Aber aus dieser Perspektive hatte ich sie noch nie gesehen, was mich beunruhigte. Ich wusste sofort, wo ich war und von dieser Erkenntnis gepackt, versuchte ich, mich aufzusetzen. Aber es gelang mir nicht. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Schädel.
Dann hörte ich wieder meinen Namen.
»Cara!«
Diesmal klang die Stimme ganz nah und sehr sanft. Und ich erkannte sie.
Jemand beugte sich über mich. Nachdem sich mein verschwommener Blick fokussiert hatte, sah ich in das unsicher lächelnde Gesicht von David.
»Was… ist passiert?«, fragte ich und spürte, wie unglaublich heiser und fragil meine Stimme klang. Mein Mund fühlte sich extrem trocken an und ich spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.
»Du bist endlich wieder bei uns!«, erklärte David, in dessen Stimme ich Erleichterung und auch eine gewisse Unsicherheit spüren konnte. »Ich konnte es kaum glauben, als sie mich anriefen! Woran erinnerst du dich?«
Ich überlegte, soweit mir das in meinem offensichtlich recht desolaten Zustand möglich war. Kleine Erinnerungsfetzten, wie die Bruchstücke eines langsam verblassenden Traums, blitzten vor meinem geistigen Auge auf. Da war ein Kürbis, leuchtend orange und mit einer lachenden Fratze. Halloween. Ja genau, es war ja Halloween! Ich hatte meine Arbeit beendet und war mit David verabredet…
»Also, was hast du mit mir vor?«, fragte ich gut gelaunt, als wir über den Personalausgang in den Hof traten. »Schlepp mich bloß nicht auf eine Halloween-Party!«
Er lachte. »Keine Angst, sicher nicht!«
Ich freute mich wie ein kleines Kind auf den bevorstehenden, gemeinsamen Abend. Es war unsere dritte Verabredung und alle Zeichen standen auf Sex, das spürte ich irgendwie. Und ich hoffte es.
David klimperte mit den Autoschlüsseln. Auf dem Parkplatz blinkten kurz zwei Lichter rhythmisch auf. Aber sie gehörten nichts zu Davids kleinem Renault. Mit Verwunderung bemerkte ich, dass er die Tür eines anderen Wagens für mich öffnete. Es war ein weißer Kleinbus.
»Nanu, neues Auto?«, fragte ich und kletterte auf den Beifahrersitz.
»Nur geliehen. Meiner ist in der Werkstatt«, erklärte David, schloss die Tür und stieg dann auf der Fahrerseite ein. »Der hier gehört meiner Schwester.«
»Du hast eine Schwester?«, fragte ich erstaunt. Ich kannte ihn bisher doch noch recht wenig, wie ich feststellte.
»Ja, sogar zwei.« David hob seinen Hintern an und zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Er klappte sie auf und zeigte mir ein Foto. Darauf waren er und eine blonde Frau mit Ponyfrisur, Zungenpiercing und Flashtunneln zu sehen, die ihre Arme und die Schultern des jeweils anderen gelegt hatten. Zu ihren Füßen saß ein kleiner Mops.
»Das ist Emily. Ich sehe sie leider im Moment nicht so oft. Sie macht ein Praktikum bei Guinness in Dublin. Aber jetzt ist sie hier, um mit ihrem Freund und ein paar Kumpels Halloween zu feiern.« Er steckte die Geldbörse wieder ein und dann den Schlüssel ins Zündschloss. Aber er drehte ihn nicht um. Stattdessen sah er mich an und lächelte. Ich lächelte zurück. Und dann passierte es: Wir küssten uns. Nur kurz und auch nicht sehr intensiv. Aber die Saat für mehr war gesät. Wir sagten erst einmal nichts und David startete den Wagen.
Wir hatten die Ausfahrt noch nicht verlassen, als ich in meiner Handtasche nach meinem Lippenstift kramte. Als ich mich dabei etwas von David abwandte, spürte ich mit einem Mal seinen wohlig warmen Atem an meinem Hals. Dann folgte ein zärtlicher Kuss in meinen Nacken. Ich schloss die Augen und lächelte.
»Ich war schuld«, sagte David heiser und sah verschämt weg. »Ich hatte den verdammten Fischlaster nicht gesehen. Er war aber auch viel zu schnell unterwegs gewesen.«
»Was…?«, setzte ich zu einer Frage an. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was nach Davids Kuss in meinen Nacken passiert war.
»Er hat den Kleinbus mit voller Wucht erwischt. Mir ist nichts weiter passiert, außer einer gebrochenen Rippe. Aber du…« Er schluckte. »Du lagst im Koma.«
Ich starrte gedankenversunken zur Decke. Mir war, als würde sich gerade ein tiefes Loch auftun, in das ich hinein fiel. Dann hörte ich, wie sich eine Tür öffnete und kurz eine mir vertraute Geräuschkulisse an mein Ohr drang; die eines geschäftigen Krankenhausflurs. Jemand hatte das Zimmer betreten.
»So, Mister Perkins, das reicht jetzt. Nicht länger als drei Minuten, hatten wir gesagt!«, hörte ich Schwester Gwen sagen, die ich gut kannte. Wir hatten schon unzählige Nachtschichten zusammen Dienst geschoben.
Sie beugte sich über mich und sah mich mit ernster Miene an.
»Sie braucht jetzt Ruhe! Das war ein erster Schritt, aber der Arzt hat gesagt, Sie sollen es langsam mit ihr angehen.«
Ich erkannte gerade noch aus den Augenwinkeln den kleinen Anstecker, den Gwen über ihrem Namensschild trug. Er hatte die Form eines Kürbisses und er blinkte. Ja, natürlich, es war ja Halloween!
Ich räusperte mich und spürte die Trockenheit in meiner Kehle. »Wie lange war ich bewusstlos?«
Es konnten ja zum Glück höchstens ein paar Stunden gewesen sein. Ich erkannte, wie David und Gwen einen stummen, ernsten Blick wechselten. Dann sagte David:
»Ein ganzes Jahr.«
Die Erkenntnis traf mich nicht sofort; erst nach ein paar Sekunden hatte ich die Bedeutung dieser drei kleinen Worte wirklich erfasst. Mir wurde sofort schwindelig und wenn ich nicht schon gelegen hätte, hätten mir meine Beine sicher ihren Dienst versagt.
»Ein Jahr?«, fragte ich entsetzt und war erneut versucht, aufzuspringen. Schwester Gwen hielt mich zurück, drückte mich wieder sanft auf das Kissen.
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