Es gab auch schon in der Antike zahlreiche Gelehrte, die sich mit Naturphänomenen beschäftigten und diese zum Teil auch mathematisch beschrieben, doch war die antike Physik noch hauptsächlich eine Natur beschreibende Physik. Gute Kenntnisse hatte man, beispielweise über die Luftdichte, den Aufstieg von warmer Luft und die magnetische Anziehung. Das Gesetz vom Auftrieb, nach Archimedes, wird selbst heute in der Schule genau so gelernt. Besonders die Vorstellung von Licht als geometrischer Erscheinung bei der Spiegelung und Brechung waren genauestens bekannt und nährten den Verdacht, dass in der Natur mathematische Regeln in ihrer Idealform stecken. Aristoteles, 384 Jahre v. Chr. geboren, nannte sein Werk schlicht „Physik“. Damit prägte er den Namen Physik, auch wenn seine Naturbeschreibung noch nicht der heutigen wissenschaftlichen Form entsprach. Trotzdem waren seine Erkenntnisse, bis in die frühe Neuzeit, für den Wissenschaftsbetrieb maßgeblich. Noch im späten Mittelalter und in der Renaissance mussten sich die Naturwissenschaften mit der aristotelischen Naturlehre auseinandersetzen. Über einen Zeitraum von 2000 Jahren prägte die aristotelische Naturphilosophie das Weltbild der Menschen mit.
Die heutige Form der physikalischen Weltbetrachtung wird durch das alles entscheidende Instrument der Physik, dem Experiment, vervollständigt. Alle Ideen, jede Vermutung, jede Hypothese und Theorie, müssen empirisch überprüft werden. Damit unterscheidet sich die Physik von der Philosophie und von der Theologie, aber auch von allen metaphysischen Lehren. Die entscheidenden Punkte der Behauptung müssen genauestens herausgearbeitet werden und in einem möglichst idealen, jederzeit wiederholbaren, allgemeingültigen Experiment, überprüft werden. Erst dadurch unterscheidet sich eine physikalische Theorie von einer Fiktion. Jahrtausende lang war dies keineswegs selbstverständlich. Anders als unsere technologische, rational aufgeklärte Gesellschaft, verschwammen Wissen und Vorstellung. Der Alltag war von phantasievollen, gefühlt sinnvollen Beschreibungen bestimmt. Vermutlich hätten die Menschen mit Unverständnis darauf reagiert, Sachverhalte die selbstverständlich waren zu hinterfragen oder gar aufwendig zu überprüfen. Das Denken sah diese Option gar nicht vor. Das reformierte sich erst in der Neuzeit grundlegend. Mit der Entdeckung neuer Länder und der rasanten Zunahme an Wissen durch den Buchdruck, veränderte sich das Weltwissen jedes Einzelnen. Immer mehr Persönlichkeiten stellten die alte Ordnung in Frage und öffneten sich den neuen Entdeckungen, mit Hingabe.
In diesem Kontext wundert es nicht, dass auch ein Mann wie Galilei anfing, das bisherige Wissen, die Physik der Alten, systematisch im Experiment zu überprüfen und so zu ganz neuen Bewertungen und Einschätzungen über die Natur kam. Schöpfung und Naturgesetze wurden nicht mehr als eine von Gott so gewollte, in einem Schöpfungsakt entworfene und realisierte Welt angesehen, die man fraglos hinnahm, sondern es wurden Messungen und Analysen vorgenommen, aus denen sich Gleichungen und Axiome ergaben. Die Freiheit des Phantastischen, die vielen Möglichkeiten, die uns unser Gehirn auch als realistische Einschätzung aufzeigt, wurden gestutzt auf eine überprüfbare Endlichkeit und eine geordnete Gesetzmäßigkeit der Natur, mittels Formeln und Gleichungen. Unsere Welt wurde dadurch zunächst viel kleiner und enger, aber wie wir wissen, entwickelten sich aus dieser Methodik neue, völlig ungeahnte Welten und letztendlich eine so unglaubliche Technik, dass sie die Vorstellungskraft der Alten von dem was man bewerkstelligen kann, bei weitem übertraf.
Galilei hatte das Experiment in der Physik, mit seiner Autorität, fest installiert und damit die Physik von Aristoteles und Sokrates, durch die Empirie vervollständigt. Damit wurde sie zu einer echten modernen Naturwissenschaft. Jede Idee, jede Hypothese und jede Theorie musste an der Natur wiederholbar überprüft werden und es kamen plötzlich immer mehr Geheimnisse ans Licht, die in den Naturerscheinungen schlummerten und erst durch das Experiment entdeckt wurden. So entwickelte sich ein eigener Zweig der Physik, die Experimentalphysik, die entweder die Theorien zu bestätigten versuchte, bekannte Größen und Konstanten immer genauer bestimmte oder sogar Neues erforschte, bzw. entwickelte, also echte Grundlagenforschung betrieb. Die Befunde der experimentellen Physik waren dann wieder Anlass für die theoretische Physik, die Hypothesen und Theorien zu verbessern oder ganz neu aufzustellen.
Damit kann Galileo Galilei vielleicht als Vater der heutigen Physik bezeichnet werden, falls man überhaupt eine Einteilung vornehmen will. Verblüffend ist, dass sich seine allgemeingültigen Gesetze, im Vergleich zu Aristoteles, aus ungenauen Verallgemeinerungen ergaben. Aristoteles konnte den Kreis zur vollkommensten Form der Bewegung erheben und darauf die Bewegungen der Gestirne aufbauen. Stützt man sich auf Experimente, so sind diese immer unvollkommen, erst recht mit den Mitteln der damaligen Zeit. Will man trotzdem universelle Gesetze daraus ableiten, muss man sie in Gedanken idealisieren. Beispielsweise stellt man sich in Gedankenexperimenten den Raum luftleer oder reibungsfrei vor und bezieht das in seine Experimente mit ein. Auf diese Weise kommt man zu Zusammenhängen, die zwar so nur für den Idealfall gelten, in denen aber doch das Wesen der Natur in Form eines Gesetzes steckt.
Natürlich hatte Galilei auch die Persönlichkeit und die Anerkennung der Fachwelt hinter sich, um das Naturwissen ganz von der Philosophie zu lösen und damit auf eine neue Stufe zu stellen. Trotz seiner Schwierigkeiten mit der Obrigkeit, genoss er, besonders außerhalb von Italien, in Fachkreisen hohes Ansehen und mit seinem Werken über die Mechanik nahm der Weg der Physik bei ihm seinen Anfang.
Inzwischen hat sich das gesellschaftliche Bild von der Physik und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft, sowie auch für die Philosophie, komplett gewandelt. Was die Frage nach dem Ursprung allen Seins betrifft, ist heute nicht mehr die Theologie die Instanz, die als einzige, neben der Philosophie, antworten auf die Grundsatzfragen gibt, die anerkannt werden. Bislang stand die Physik immer im Schatten der Mathematik und der Philosophie und musste sich aus den übergeordneten Schöpfungsfragen heraushalten. Die Theologie gab die Grundlagen vor, daran hatte sich der Mensch zu halten. In der Philosophie wurden akademische Fragen über das Denken, auch das Naturgeschehen betreffend, theoretisch diskutiert und es wurde versucht die Klarheit der Mathematik und der Logik in den Aufbau der Welt mit einzuarbeiten. Doch der Durchbruch, der Physik als exakte Wissenschaft, gelang ihr erst, als auch das Denken jedes Einzelnen, kritischer und rationaler wurde. Erst nachdem die Menschen anfingen sich selbst zu erkennen, sich ihrer Individualität bewusst wurden, war es ihnen möglich die biblische Schöpfung in Frage zu stellen. Ab dann, konnten sie die Gesetzmäßigkeiten in der Natur analytisch, sachlich, nüchtern begreifen und verstehen.
Musste der Italiener noch um die Reputation seiner Person als Physiker in der allgemeinen Gesellschaft kämpfen, so genießt ein Physikprofessor inzwischen großes Ansehen, selbst wenn er unbekannt bleibt. Heute würde niemand darüber spötteln, wenn sich jemand als Physiker vorstellt.
Physiker stehen für Intelligenz und Klugheit. So heißt es, dass Physiker komplexe Sachverhalte verstehen und Lösungen dafür finden können. Sie sind diejenigen, die heute über den Ursprung des Universums nachdenken, sich über die ganz großen Weltfragen Gedanken machen und die Entscheidung darüber fällen, was als anerkannte Meinung akzeptiert wird und was nicht. Nicht mehr die Theologie und auch nicht mehr die Philosophie findet heute in der gesellschaftlichen Diskussion über das Woher und Wohin so viel Respekt und Gehör wie die Physik. Ob zu Recht oder zu Unrecht und ob man wirklich jeden Physiker ernst nehmen sollte, ist eine andere Frage. Allein schon die verwirrenden, fremdartigen Formeln und Gleichungen, mit ihren vielen abstrakten Zeichen, haben etwas Achtung gebietendes. Gleichungen die eine ganze Tafellänge beanspruchen und Umformungen, Beweise und Rechnungen, die sich in einer Vorlesung über viele große Tafeln erstrecken, sind selbst für Physiker ermüdend und schwer zu verfolgen, haben aber eine respekteinflößende Wirkung.
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