Sie gingen doch nicht gleich nach Hause, sondern kehrten in das Gasthaus, Zum Schlesischen Krug, ein, um dort das Mittagessen einzunehmen. Es war bereits ein Uhr mittags. Die kleine, von der Einschmelzung verschont gebliebene Glocke machte, wie eine hohe Kinderstimme, den Einuhrschlag, als die beiden die Speisekarte mit den aufgeführten drei Gerichten und ihre Preise aufmerksam studierten, die hinter einem verschlossenen Glasdeckel links neben der Gasthaustür ausgehängt war. Von den drei Tischen waren zwei frei, auf dem dritten, einem Fenstertisch, stand aufrecht eine kleine quadratische, in einen dunklen Holzständer eingedrückte Messingplatte mit der schwarz eingelassenen Aufschrift ‘reserviert’. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau wurden vom Wirt mit Bauch und blauer Schürze freundlich begrüßt, obwohl sie das erste Mal in das Gasthaus einkehrten und dem Wirt vorher nicht begegnet waren. Der Wirt mit der feinen Nase, wie sie allen Wirten zugeschrieben wird, wusste, um wen es sich bei den Mittagsgästen handelte, und sprach sie, als Eckhard Hieronymus noch die Außenklinke in der Hand hatte, mit „Guten Tag Herr Pfarrer!, guten Tag gnädige Frau!“ an. Sie setzten sich an den mittleren Tisch, der dem Fenstertisch am nächsten stand. An der alten Holztheke stand ein älterer Mann, an dessen dunklem Anzug der Hauch von Schäbigkeit haftete, und vor sich ein Schnapsglas stehen hatte, das er in regelmäßigen Abständen zum Mund führte und nachfüllen ließ. Die beiden am Tisch verschafften sich die erste Orientierung. Der Wirt, ein Herr in den mittleren Jahren, mit langem Backenbart und großen Ohren, trat an den Tisch. Er lächelte den Gästen ins Gesicht, erst der jungen Frau, dann dem jungen Herrn Pfarrer. Er wollte die Gäste, und noch mehr ihr Kommen, ehren und bot ihnen ein Willkommens-Schnäpschen zum, wie er sagte, Aufwärmen der Gemüter an. Dabei ließ er nicht ungesagt, dass diese Runde ein Geschenk des Hauses sei und auf seine Kosten gehe. Während die beiden sich, ob verblüfft oder erschrocken ansahen, sei dahingestellt, über das Prinzip des alkoholischen Genusses nachzudenken begannen, offerierte der Wirt mit den entsprechenden Erklärungen die verschiedenen Marken und Geschmacksrichtungen, vom Holstenkorn, über den ostpreußischen Bittermann bis zum schlesischen Mandelbitter und Liegnitzer Hirschwasser. „Warum nicht“, meinte Luise Agnes, die sich Hände und Wangen warm rieb, „ich könnte schon einen Aufwärmer gebrauchen“, und mit Blick auf ihren, noch unentschlossenen Mann, „das kommt ja nicht jeden Tag vor.“ „Da darf ich ihnen den Schlesischen Mandelbitter empfehlen; der hat ein erfrischendes Aroma und ist nicht zu stark“, schlug der Wirt vor. „Gut, dann will ich den Mandelbitter probieren“, erwiderte Luise Agnes. „Sehr wohl, gnädige Frau, der wird ihnen gut tun!“ Der Wirt wandte sich dem Herrn zu: „Und ihnen, Herr Pfarrer, wenn ich einen Vorschlag machen darf, würde ich das Liegnitzer Hirschwasser empfehlen, das herb im Geschmack und in der Konzentration nicht zu geistig ist.“ Eckhard Hieronymus schaute seine Frau fragend an, die mit dem Kopf nickte und die Bestellung der Gemütsaufwärmer ohne weitere Verzögerung zu Ende brachte. Der Wirt ging hinter die Theke zurück, als Eckhard Hieronymus seiner Frau die Frage stellte, was wohl die Menschen denken werden, wenn sie den Pfarrer, der hier gerade seinen Dienst begonnen hat, mit dem Schnapsglas in der Hand oder vor dem Munde sehen, und das am Totensonntag. Luise Agnes sah das anders; sie erklärte die Schnapslage als eine wirksame Medizin an einem kalten regnerischen Spätherbsttag, die einer Erkältung mit ihren negativen Folgen vorbeuge. Der Wirt hatte die zwei Schnapsgläser gefüllt, kam und stellte sie auf den Tisch, erst der jungen Frau zur Rechten mit den Worten: „einen Schlesischen Mandelbitter für die gnädige Frau und ein Liegnitzer Hirschwasser für den Herrn Pfarrer.” Dann wünschte der Wirt ein freundliches Prosit. „Können wir die Bestellung aufgeben?“, fragte Luise Agnes. „Selbstverständlich gnädige Frau“, erwiderte der Wirt. Mann und Frau hatten sich bereits abgestimmt, so bestellte Eckhard Hieronymus zweimal Schweinskotelett mit Bratkartoffeln. Die Frage nach dem Gemüse, beantwortete der Wirt mit einem Lächeln, dass es Frischgemüse aus Bohnen, Möhren und Rotkohl sei, überzogen mit einer speziellen Käsesoße nach böhmischer Art. „Wäre es so recht?“, fragte er, um sich zu vergewissern. Luise Agnes nickte mit dem Kopf, der Wirt ging, öffnete die Tür neben der Theke und rief die Bestellung in die Küche, aus der ein aromatischer Fleischgeruch in die Gaststube drang. Eckhard Hieronymus blieb für mehr als eine Minute still. Luise Agnes sah seinem Gesicht und den müden Augen an, dass er in einer anderen Welt war. Sie wollte ihn an den Tisch zurückholen und ermuntern. So fragte sie ihn, ob er zufrieden sei mit dem, was abgelaufen war. „Mit dem Gottesdienst schon, mit dem, was danach kam, weniger“, erwiderte er und rieb sich mit den Zeigefingern über die Augen; worauf Luise Agnes, die sah, dass etwas nicht stimmte, sagte, dass er ihr zu Hause von dem Gespräch in der Sakristei doch berichten möge. Zwei Männer, denen die Haare beim einen ergraut, beim andern ausgefallen waren, betraten die Gaststube und setzten sich an den Fenstertisch. Einer von ihnen schob die kleine Messingplatte mit der schwarzen Aufschrift „reserviert“ mitsamt Ständer zur Seite. Auch sie hatte der Wirt beim Eintreten freundlich begrüßt, aber ein Schnäpschen auf Hauskosten zum Aufwärmen der Gemüter hatte er ihnen nicht angeboten. Es waren Herren, von denen sich Eckhard Hieronymus nur an den glatzköpfigen erinnerte, wie er nach dem Gottesdienst die Kirche verließ, weil er einer der wenigen war, die weder eine Miene zum Gruß verzogen, noch auf seinen Gruß reagierten. Der ältere Mann an der Theke, dessen Jacke vom Regen durchnässt war und der ganze Anzug die Merkmale der ungepflegten Schäbigkeit aufwies, ließ sich von Zeit zu Zeit das Gläschen nachfüllen, schaute unbeirrt auf die halbvollen Regale mit den Getränkeflaschen hinter der Theke und begann, in den Knien weich zu werden, die er mit zunehmender Mühe doch wieder nach hinten durchdrückte und für eine gewisse Zeit durchgedrückt hielt. Der Wirt, mit der feinen Nase, sah das Unglück vorher; er sah es Minuten früher, doch nicht auf die Sekunde genau. Er bot dem Stehgast an der Theke den Stuhl am dritten Tisch an, weil er an den kürzer werdenden Intervallen aus Erfahrung wusste, wann das Einknicken in den Knien komplett und die dazugehörige Person nicht mehr in der Lage sein würde, diese Scharniergelenke aus eigener Kraft nach hinten durchzudrücken. Der Stehgast lehnte das Angebot des Sitzenkönnens mit einer kratzenden Stimme und unberechtigten Empörung ab, blieb stehen und ließ sich das X-te Gläschen füllen. Dem Pfarrer und seiner Frau tat dieser abgleitende Mensch leid, der bereits ein Stadium angetrunken hatte, in dem er sich nicht mehr helfen lassen wollte. Die beiden schauten sich betroffen an, worauf Luise Agnes das Wort „Einsamkeit“ über den Tisch flüsterte und Eckhard Hieronymus sein Mitgefühl an der peinlich bedauernswerten Lage eines kurz vor dem Zusammenbruch Stehenden mit blassem Gesicht über den Tisch zurücknickte. Dann war es soweit. Der Wirt trat aus der Küchentür, strahlte schon den Gästen am Mitteltisch verheißungsvoll entgegen, hielt in beiden Händen die mit Schweinskoteletts, Bratkartoffeln und von einer Käsesoße nach böhmischer Art überzogenem Gemüse gefüllten Teller in Höhe der Bauchvorwölbung, als der Mann vor der Theke die Herrschaft über sich und seine Knie verlor, mit den Händen von der Theke dann wegrutschte, als er im Begriff war, das Schnapsglas, das noch nicht leer getrunken war, auf die Theke zurückzustellen. Das Glas schlug auf den Holzboden und rollte unter den Tischen bis zur Fensterwand. Der knieweich Betrunkene stürzte dem Wirt gegen Bauch und Schürze, dass diesem nach der Heftigkeit des Aufpralls, der ihn in der unvorhergesehenen Sekunde traf, beide Teller aus der Hand fielen und am Boden zerschellten. Der Mann von der Theke rutschte mit dem Kopf am Bauch des Wirtes runter, stürzte krachend zu Boden und röchelte; er lag auf und zwischen den Scherben und den bestellten Gerichten, was sich nun alles im Durcheinander auf dem Boden verteilte. Der Wirt war blass und schien für eine Sekunde die Fassung zu verlieren. Er verlor sie nicht, fasste sich in der zweiten Sekunde, ging mit blassem Gesicht an den mittleren Tisch und entschuldigte sich für den unvorhergesehenen Zwischenfall, der ihn in letzter Sekunde doch unerwartet getroffen hatte. Er versicherte den vollen Ersatz in kürzester Zeit, stieg über den am Boden Liegenden vor der Theke, öffnete die Küchentür und rief mit energischer Stimme: „Noch einmal dasselbe!“, worauf eine dunkelhaarige Frau der mittleren Größe, deren Alter schwer zu schätzen war, mit verschmierter Schürze durch die offene Küchentür in die Gaststube blickte und auf dem Boden die Bescherung mit Mann, Tellerscherben und den verstreuten Gerichten sah. Der Wirt machte sich mit den Männern vom Fenstertisch daran, den Liegenden in einen Nebenraum zu tragen, wo er seinen Rausch ausschlafen sollte. Der Wirt holte noch eine Wolldecke, jene graue Decke mit dem braunen Streifen, wie sie die Soldaten an der Front hatten, um den Stehgast von der Theke, der nun schnarchend im Nebenraum lag, zuzudecken. Nun spendierte der Wirt den Männern vom Fenstertisch, die jetzt an der Theke standen, einen Schnaps auf Kosten des Hauses, für jeden einen Doppelten, den ostpreußischen Bittermann für den Herrn mit der Glatze und für den Herrn mit den wenigen grauen Haaren einen Holstenkorn. Der Wirt hinter der Theke erlaubte sich ebenfalls einen Doppelten, und die drei stießen auf das gemeinsame Wohl an und leerten die Gläser in einem Zug. Die Küchenhilfe, ein Mädchen mit dunklen Haaren von etwa zwanzig, die auch die Tochter des Wirtes hätte sein können, fegte in der Zwischenzeit die Scherben und verschütteten Tellergerichte zusammen und säuberte den Boden mit einem nassen und dann einem ausgewrungenen Scheuerlappen.
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