So klammerte sie an ihrem Lenkrad und fuhr durch die Nacht, immer im Zweifel, immer in Unsicherheit: War sie am richtigen Weg oder am falschen?
Sie war inzwischen sehr angespannt, und gereizt sowieso. Sie musste sehr langsam fahren. Langsam war notwendig, weil sie sonst die Hinweisschilder nicht entziffern konnte. Autos stauten sich hinter ihr. Ameisen liefen auf ihrem Rücken auf und ab. Besonders arg wurde es, wenn ein Fahrer hinter ihr ungeduldig dicht an ihre Stoßstange fuhr. Vor ihrem inneren Auge sah sie seine weiß verkrampften Knöchel am Lenker. Sie glaubte, durch die schwarzen Scheiben sein wutverzerrtes Gesicht zu sehen, und hatte das Gefühl, sich in Luft auflösen zu müssen. Bei Patienten bearbeitete sie das: Jeder hatte das Recht auf seinen Quadratmeter Boden, sagte sie immer, hatte das Recht, vorhanden zu sein, wenn er doch geboren war! Aber wenn einer knapp an ihre Stoßstange fuhr, vergaß sie die weisen Worte sofort – und wollte sich auflösen in ein rosiges Nirwana ohne Störung und Stoßstangen.
Sie hatte sich nach der Baustelle wieder in die Autoschlange gereiht und versuchte nun, die Wegweiser alle auf mindestens 100 Meter zu lesen. Das ging nicht, denn sie hatte eine große graue Fläche vor Augen, die jeden Ausblick verstellte, das Heck eines Lastwagens. Das war sehr beunruhigend, denn sie konnte doch nicht so langsam fahren, dass sie die Schilder in Ruhe auf zehn Meter entziffern konnte.
Sie konnte nicht die aufhalten, die doch wussten, wo genau ihr Weg war, und sie allein wusste es nicht.
Schließlich hatte sie die Abfahrt geschafft, die sie mit einiger Wahrscheinlichkeit für die richtige hielt. Die Landstraße schlängelte sich nun unentschlossen vor ihr her. Sie war durch ein Dorf gekommen und empfand zuerst große Erleichterung. Menschliche Siedlungen waren Orte der Unterstützung. Aber angesichts der stockdunklen Fassaden kamen ihr Zweifel. Langsam war sie zwischen den schlafenden Fensterreihen durchgefahren – ungesehen. Keiner wusste von ihrer Existenz – keiner hier. Wenn sie die Erde verschluckte, war sie einfach spurlos weg …
Sie fuhr weiter, durch ein Waldstück mit sehr hohen alten Bäumen. Über ihr ein schmaler Streifen Sternenhimmel. Irgendwo hinter den Baumriesen leuchtete ein Mond. Die Stämme wirkten bläulich dunkelgrau und verloren sich im Schwarz. Da fiel die Elektrik des Autos aus. Einfach so, plötzlich. Der Kamerad, mit dem sie gemeinsam durch die dunkle Welt gezogen war, stand leblos, ohne Schnurren, ohne irgendeinen Laut.
Es war grauenhaft. Nichts rührte sich mehr. Kein Licht, kein Motor, nichts. Wieso war der so einfach tot? Wer hatte ihn getötet?
Aliens fielen ihr ein. Würde jetzt gleich ein Raumschiff über ihr erscheinen und sie mit einem Strahl hochbeamen? Als Versuchsobjekt. Würden sie ihr alle Zähne reißen und sie mit Krankheiten infizieren – nur so, aus Wissensdurst? Einfach aus Forscherdrang? Funktionierten Aliens wie Menschen? Und was würde dann sein – ein Restleben in einem weißen Käfig?
Sie fühlte sich wie ein Astronaut, dessen Verbindung zum Raumschiff abgerissen war. Ein Bild von einem sehr hellen Menschen in einem Anzug wie ein Marshmallow-Männchen drängte sich vor, frei schwebend im unendlichen, stockdunklen All, hinter ihm einzelne Sterne, die dünne, helle Schnur zum Raumfahrzeug gerissen. Die Gestalt schwebte davon. Was war dann? Wie konnte man im luftleeren Raum heimfinden? Wie konnte man Richtung machen? Vielleicht schwimmend? Nein, nicht ohne Luft. Sie saß wie versteinert, starrte durch die Windschutzscheibe und hielt sich am toten Lenkrad fest.
Dann machte sich Restvernunft bemerkbar. Sie konnte keine Aliens sehen und Autos waren auch nur Maschinen, die halt gelegentlich Defekte hatten. Sie ließ das Fenster ganz herunter und setzte sich damit den unsichtbaren Bedrohungen des Waldes aus. Die Luft war angenehm und die dunkle Masse der Bäume machte leise Geräusche.
Sie könnte bis zum Tagesanbruch sitzen bleiben, war aber dann vor dem gleichen Problem wie gerade eben – es war nicht klar, ob jemand vorbeikäme, ob der halten würde, Hilfe leisten … Denn sie wusste ja nicht, wo sie war, und sie hatte auch einen Job. Sie musste anwesend sein am nächsten Vormittag. Da begann diese seltsame Aufgabe. – So etwas hatte sie noch nie gemacht. 11 Uhr am nächsten Vormittag begann dieser Auftrag in einigen Kilometern Entfernung … Hoffentlich in wenigen Kilometern Entfernung …
Aber jetzt in diesem Moment musste sie mit dem Alienangriff fertigwerden. Sie versuchte, in sich hineinzulächeln. Aber der Witz gelang nicht so richtig. Die Einsamkeit umschlang sie rücksichtslos. Vernunft befahl ihr, auszusteigen und die Straße weiterzugehen – irgendwo musste die ja hinführen, das war die Aufgabe von Straßen. Vielleicht war ja das „Waldhotel“ näher, als sie dachte?
Den letzten Ort der Sicherheit zu verlassen, kostete einige Mühe. Der Widerstand war heftig. Sich panisch auf dem Sitz einzuringeln war so naheliegend …
Vorsichtig stieg sie aus und ging um das stille Auto herum. Dann packte sie die notwendigsten Kleidungsstücke aus ihrem kleinen Koffer in einen Sack, hängte noch ihre Tasche über die Schulter, stellte das Pannendreieck auf und versuchte, sich sportlich aktiv zu fühlen. Die Bewegung war nicht das Problem – es fühlte sich gut an, Beine zu haben, auf denen man schnell weglaufen konnte, vor was auch immer… Sie gab sich einen Stoß ins Dunkle hinein. Es fühlte sich an wie ein Sprung vom Zehnmeterbrett. Dann aber begann sie, forsch auszuschreiten – sie wollte sich forsch fühlen.
Der Wald führte neben der Straße weiter und weiter – sie hatte Sehnsucht nach einer Wiese – wenigstens einer Wiese. Eigentlich hatte sie Sehnsucht nach bewohnten Häusern mit Licht. – Ein Lichtlein im Dunklen wie im Märchen, das war es, was eine gute Fee für sie herzaubern sollte …
War da ein seltsames Geräusch? Hatte sie etwas gehört? Wahrscheinlich akustische Halluzinationen, weil sie so angespannt war.
Nein, da war ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein musikalisches Surren. Was war das?
Ein kleiner Weg führte in den Wald in der Richtung, aus der sie glaubte, den seltsamen Ton zu hören. Es klang jetzt wie Luft in Telegraphendrähten. Wie eine Harfe, die seltsam gespielt wird – aber doch bitte nicht mitten in der Nacht. Vorsichtig folgte sie dem Pfad ein kleines Stück, schaute immer über die Schulter, um die Straße noch im Blick zu haben. Das Geräusch war jetzt von anderen Tönen begleitet. Es war deutlich, es war erzeugt – von Menschen? Durch die Bäume war ein blasser Schein zu sehen, bläulich. Wenn es Menschen waren, dann könnte vielleicht Hilfe zu holen sein. Räuberbanden waren ja inzwischen selten geworden – oder nicht? Die wohnten jetzt in den Städten, nicht im Wald.
Sie verhielt sich sehr leise – sicher war sicher. Es schien etwas wie eine Lichtung vor ihr zu liegen, von der die Töne kamen.
Vorsichtig spähte sie durch das Buschwerk. Das Geräusch war jetzt klar von ungewöhnlichen Instrumenten erzeugt. Sie konnte aber noch immer nicht sagen, wovon genau es erzeugt war. Ein fremder Klang – erinnerte sie ein bisschen an ein Didgeridoo, luftig, wie Musik vom Wind.
Da lief etwas über den schmalen Spalt, den der Wald an der Mündung des Weges in die Lichtung frei ließ. Es war etwa so groß wie sie. Es war hell. Judith hatte ein Gefühl in ihrem Brustbein, das schlagartig alle anderen Gefühle verdrängte. „Da sieht man, wozu Ängste fähig sind“, dachte sie. Etwas hatte sie ein Alien sehen lassen. Sie kroch geräuschlos näher. Zwischen den Bäumen durch starrte sie auf etwas im schwachen Licht, bis ihr die Augen weh taten.
Auf der Lichtung bewegten sich Geschöpfe seltsam, wie in Zeitlupe. Helle, glatte Gestalten, und jede hatte Antennen auf dem Kopf, die aussahen wie Fühler von Insekten. Der Klang des Didgeridoo veränderte sich nur wenig. Die Gestalten schienen im Kreis zu gehen, aber jeder Schritt war übertrieben lang, die dünnen Beine wurden bis zur Brust hochgezogen und dann lang vorgestreckt. Und so wanderten die rundum. Es war nicht grauenhaft – es war nur unmenschlich.
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