Jen lachte. „Nein, meine Freundin und ich nennen ihn nur so. Eigentlich heißt er Herr Miller.“
„Ach so, verstehe“, meinte Nico. „Aber ist das nicht ein wenig übertrieben, dich gleich aus dem Unterricht zu werfen, bloß weil du zu spät kamst?“
„Wem sagst du das“, brummte Jen.
„Was hast du ihm denn angetan?“
„Wieso denken immer alle, ich sei unhöflich?“, rief Jen aus. Wo sie sich vor zwei Sekunden noch verstanden gefühlt hatte, hatte sie nun wieder große Lust, Nico das misslungene Ölbild anzuschmeißen.
„Das muss an deiner natürlichen Zurückhaltung liegen“, erwiderte Nico trocken und erntete einen weiteren erzürnten Blick von Jen. Diese Unterhaltung war echt anstrengend! Hastig beendete sie die Erklärung. „Ich habe ihm gesagt, dass der Beamer nicht kaputt sei, sondern dass er ihn einfach nicht bedienen könne, weil er in seinem Englischstudium gelernt hat, wie man Schüler schikaniert und nicht Beamer“, erwiderte sie trocken.
Nico lachte ein wenig, wandte dann aber kommentarlos den Blick wieder ab und stierte auf das Ölgemälde der alten Frau. Seine Haltung war von einer Sekunde auf die andere von interessiert zu abweisend gewechselt, Jen wusste wirklich nicht, was sie davon halten sollte. Seufzend schaute sie wieder auf ihr Blatt und ignorierte den Stich, den ihr diese Reaktion erteilte.
Die Zeit verging, Nico starrte das Ölbild an, Jen starrte ihr Blatt an. Aber außer dem Wort „Zeit“ gab es da nicht viel zu lesen.
„Du musst gehen. Sonst kommst du wieder zu spät“, sagte Nico auf einmal.
Jen zuckte zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass er plötzlich zu sprechen begann. Sie warf einen Blick auf die Uhr: 9:20 Uhr.
„War das grad eine Hilfe?“, fragte sie erstaunt. „Oder willst du mich einfach loswerden?“
Nico zuckte mit den Schultern und Jen sackte das Herz in die Hosen.
Okay, kein Problem, er will mich loswerden. Was kratzt mich das? Er ist nur ein arroganter Mistkerl.
Was auch immer der Grund war, er hatte recht, auch wenn es Jen nicht gefiel, zugeben zu müssen, dass Mr. Asozial recht hatte. Also packte sie schnell ihre Sachen zusammen und eilte gerade noch rechtzeitig zur Schule.
Es war kurz nach vier, Jen fuhr auf dem Skateboard nach Hause. Als sie sich der kleinen Hütte am Rand der Stadt näherte, zog sich ihr Magen ängstlich zusammen. Was war, wenn Gollum mit ihrer Mutter telefoniert hatte und gesagt, dass Jen zum dritten Mal zu spät gekommen war? Sie stieg ab ihrem Board und ließ sich Zeit, die Treppe zur Haustüre hinaufzugehen. Gerade als sie ihren Schlüssel ins Schloss stecken wollte, öffnete sich die Tür schwungvoll und ihre Mutter stand teufelsgleich im Türrahmen. Jen zuckte zusammen. Bingo.
„Hi Mom. Wie war's bei der Arbeit?“
„Spar dir die Höflichkeiten“, fuhr sie ihre Tochter an und ließ sie hinein.
Eingeschüchtert trat Jen in den Gang und stellte das Board an die Wand.
„Herr Miller hat angerufen“, erklang Moms eisige Stimme hinter ihr.
Jen sackte das Herz erneut in die Hose. Gollum hatte schon mehrmals angedroht, ihrer Mutter anzurufen, aber wirklich getan hatte er es noch nie. Und Jen hatte es auch nicht für nötig gehalten, ihrer Mutter von ihren Absenzen und Unterrichtsverweisungen zu erzählen. Sie hielt den Atem an und drehte sich um.
„Was hat er gesagt?“ Schließlich wollte sie nicht mehr verraten als nötig.
„Du bist zum dritten Mal zu spät gekommen! Er hat dich vom Unterricht verwiesen!“, schrie ihre Mutter auf einmal los und Jen blinzelte verwundert. Ihre Mutter verlor selten die Beherrschung, aber wenn, dann war es gar nicht lustig. Und dummerweise kam das in letzter Zeit immer öfters vor.
„Ich hab dir doch gesagt, dass mein Wecker kaputt ist!“, rief Jen. Ihre Mutter war nicht der Typ, der nie gespickt oder geschwänzt hatte, warum fand sie also Verspätungen so schlimm?
„Einen Wecker kann man flicken! Und das war nicht das erste Mal!“, erzürnte sich Mom.
„Mom, ich bin ja nur zu spät gekommen. Es gibt Schlimmeres“, versuchte Jen sie zu besänftigen - eine völlig falsche Taktik, wie sie jetzt bemerkte.
„Nur zu spät gekommen?!“, wiederholte Mom und ihr Gesicht lief rot an. „Er hat dich vom Unterricht geschickt!“
Das hast du schonmal gesagt.
Jen blickte zu ihr und überlegte sich, weshalb sie so zornig darüber war. Vielleicht hatte sie doch erfahren, was Jen ihm über den Beamer gesagt hatte. Aber dann hätte sie das wohl schon gesagt und sie gerügt, dass man so nicht mit einem Lehrer sprach. Das hieß, sie wusste tatsächlich nur von den Verspätungen. Musste sie deswegen so herumschreien, dass Nico im Haus Lupos das sogar hören könnte? Jen wurde immer wütender und wollte ihre Mutter am liebsten anschreien, dass sie bestimmt auch schon mal zu spät gekommen war und das nun mal passieren konnte – es war ja keine Absicht! Sie setzte zu sprechen an.
Aber dann sprach, beziehungsweise schrie, ihre Mutter schon weiter: „Und statt dass du nach Hause gekommen bist, wie es jedes normale Kind getan hätte, hast du irgendwo in der Stadt herumgelungert! Du hättest weiß-Gott-wo sein können und keiner hätte es gemerkt!“
Das brachte ein ganz anderes Licht in die Sache! Sie reagierte offenbar nur so übertrieben, weil sie sich Sorgen gemacht hatte! „Mom, du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!“, rief Jen halb lachend und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Daher wehte also der Wind!
Ihre Mutter schloss und öffnete den Mund und schnappte wie ein Fisch am Land nach Luft. Offenbar hatte sie nicht erwartet, dass Jen ihren Grund zur Schelte erriet. Erschöpft lehnte sie sich an das dunkle Geländer der Treppe, die nach oben führte.
„Es tut mir leid. Das nächste Mal schreibe ich dir eine SMS, okay?“, fuhr Jen schnell fort, bevor ihre Mutter sich fassen konnte.
Diese senkte den Blick. „Okay, mein Schatz“, sagte sie leise. „Tut mir leid, dass ich so geschrien habe. Aber du musst wirklich deinen Wecker flicken! Es geht nicht, dass du dich mit Herrn Miller zerstreitest“, fügte sie wieder etwas strenger hinzu.
„Okay, ich kauf mir einen neuen Wecker. Die Batterie habe ich nämlich schonmal ausgewechselt und es geht trotzdem nicht.“
Ihre Mutter nickte zufrieden und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Komm um sechs Uhr wieder, dann gibt es essen, ja?“
Jen nickte und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Ihre Mutter und sie verstanden sich meistens wieder recht schnell, vielleicht lag es auch daran, dass sie zu zweit eine glückliche Mutter-Tochter-Familie bildeten. Jens Vater war abgehauen, noch während ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen war, und hatte sich nie mehr gemeldet. Auch wenn diese Aktion eigentlich genug daneben war, dass Jen ihn getrost hassen könnte, hatte sie anfangs versucht, ihn per Telefon oder Email zu erreichen, aber er ignorierte sie geflissentlich. Nicht einmal auf ein Geburtstagsgeschenk, das sie ihm mit fünf Jahren gemalt hatte, hatte er reagiert. Also hatte Jen das, wie so vieles anderes auch, aufgegeben. Auch Jens Mutter war danach nie mehr eine ernste Beziehung mit einem anderen Mann eingegangen, was Jen jedoch sehr schade fand. Sie hatte Besseres verdient!
Wie jeden Dienstag um zwei Uhr nach der Schule ging Jen ins Haus Lupos.
Doch da war sie nicht die einzige. Nico war auch dort.
„Hi“, begrüßte sie ihn und gab sich Mühe, nicht wütend zu wirken, dass er immer noch da war. Was zu Hölle suchte er in diesem Haus?
Mr. Asozial sah nur kurz auf und widmete sich nachher wieder seinem Roman. Jen versuchte, einen Blick auf das Cover zu erhaschen, aber er hielt es so, dass dies unmöglich war. Halb enttäuscht setzte sich Jen an ihren Stammplatz - wenigstens das hatte Nico ihr nicht genommen - und begann mit den Mathehausaufgaben.
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