Madame de Ventadour, die Gouvernante des schüchternen Fünfjährigen, weiß sofort, dass sie nun für die weitere Durchführung zu sorgen hat. Im Gefühl ihrer Wichtigkeit schreitet sie pomphaft und sicher, das schutzbedürftige Kind um die Schultern gefasst, zu dem von Vorhängen umschlossenen Prunklager. Die Hofgesellschaft findet es groß und richtig vom König, dass er seinen Nachfolger in der Königswürde zuerst und allein an seinem Sterbebett wissen will. Aber wird er auch zu dem Kind sprechen? Wird er es überhaupt an sein Bett herantreten lassen?
Gouvernante und Kind haben vor den geschlossenen Bettvorhängen zu warten. Nochmals holt der Erste Kammerdiener zunächst den Befehl des Königs ein. Dann erst darf Madame de Ventadour, während der Kammerdiener den Vorhang ein wenig lüftet, das Kind an das Bett des Königs hinschieben. Durch einen Wink wird ihr bedeutet, das Kind auf das Bett und in die Ärmel des Königs zu legen. Nachdem sie dies getan hat, zieht sie sich sofort zurück. Der Kammerdiener lässt den Vorhang herabfallen, und Urgroßvater und Urenkel befinden sich allein hinter den geschlossenen Vorhängen.
Die Gouvernante aber tritt so dicht, wie es möglich ist, an den Bettvorhang heran - in dieser Situation ist ihr das Ungehörige erlaubt -, denn ihr liegt es ja ob, jedes Wort zu erlauschen, dass der König zu seinem Urenkel spricht, damit es als hohes Geschehen in die Geschichtsschreibung eingehen kann. Sie muss sich genauestens die Worte einprägen, um sie dem Kind, dass jetzt noch nichts damit anzufangen weiß, später zu erklären und für seine künftige Königslaufbahn aufzubewahren. Hinter dem Vorhang hält der König - aller Anstrengung, die es ihn kostet, zum Trotz - seinen Urenkel und Nachfolger fest in seinen Armen und drückt ihn an sein Herz. Anfänglich dringen nur unverständliche Flüsterlaute an das Ohr der Gouvernante. Schließlich aber vernimmt sie immer deutlicher: „... denn bald, Mein Kind ... bald werden Sie der König eines großen Königreiches sein... Versuchen Sie, Frieden mit Ihren Nachbarn zu halten! Ich habe den Krieg zu sehr geliebt... Eifern Sie mir hierin nicht nach ... und auch darin nicht, dass Sie einen zu großen Aufwand treiben, wie Ich es getan habe... Versuchen Sie, das Los Ihrer Untertanen zu erleichtern... Ich selbst habe das Unglück gehabt, es nicht tun zu können... Mein Liebling, Ihr werdet ein großer König werden, aber Euer ganzes Glück wird davon abhängen, dass Ihr Euch Gott unterwerft und dass Ihr stets bemüht seid, Euer Volk zu entlasten. Seid ein friedliebender Fürst und seht Eure Hauptaufgabe darin, Eure Untertanen von Lasten zu befreien. Profitiert von der guten Erziehung, die Euch die Herzogin von Ventadour zuteilwerden lässt, seid ihr gehorsam und befolgt auch, um Gott gut zu dienen, die Ratschläge des Paters Le Tellier, den ich Euch als Beichtvater gebe.“
Und dann erlauscht Madame de Ventadour noch, was sie mit ungemeiner Genugtuung erfüllt: dass der große König mit schwachen Flüsterworten dem Kind Dankbarkeit gegen seine Gouvernante empfiehlt.
Danach wandte sich der König an die Gouvernante und sagte zu ihr: „Ihnen, Madame, habe ich sehr zu danken für die Mühe, die Ihr Euch gebt, um dieses Kind zu erziehen, und für die zärtliche Zuneigung, die Ihr für es empfindet; ich bitte Sie darin fortzufahren, und ich ermahne meinen Urenkel, Euch alle möglichen Zeichen seiner Dankbarkeit zu erweisen.“ Der König umarmte das Kind noch zweimal und gab ihm – in Tränen ausbrechend – seinen Segen. Kurz darauf ertönt leise ein silberner Glockenton. Der Erste Kammerdiener lüftet den Vorhang ein wenig und bittet Madame de Ventadour stumm, das Kind wieder vom König wegzuholen. Ein leichenblasser, zitternder Knabe wird nun von seiner Gouvernante - mehr getragen als geschoben - an den Platz gebracht, den der Erste Kammerdiener dem ungleichen Paar in drei Schritt Entfernung vor den nunmehr wieder geschlossenen Bettvorhängen anweist.
Der erst fünfjährige Ludwig empfängt die Huldigungen nach seiner Proklamation als König
Als Ludwig XIV. am 1. September 1715 gestorben war, verließ der Herzog Philipp (II.) von Orléans, der zukünftige Regent, das Zimmer seines Onkels, dem er die letzte Ehre erwiesen hatte, und begab sich, gefolgt von einer großen Zahl von Höflingen und Würdenträgern, zu Ludwig XV., um dem neuen König seine Ergebenheit zu bekunden. Ein Knie gebeugt küsste er diesem die Hand und sprach: „Sire, ich komme,
um als erster Eurer Untertanen Eurer Majestät meine Aufwartung zu machen. Hier seht Ihr den Hochadel Eures Königreiches, der anwesend ist, um Euch seine Treue und Ergebenheit zu bekunden.“
Als das Kind hörte, dass man es „Sire“ und „Eure Majestät“ titulierte, wurde ihm bewusst, dass sein Urgroßvater gestorben und er damit König Frankreichs geworden war. Nachdem man seine Tränen getrocknet hatte, führte man ihn auf einen Balkon des Versailler Schlosses, wo eine im Hof versammelte Menge akklamierte und ihn als ihren neuen Herrn begrüßte.
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