Solch einen Namen hatte er aber noch nie gehört. Becchi schien seine Gedanken zu erraten und erklärte ihm die Bedeutung ihres Namens: „Becchi“ sei ein Wort aus der italienischen Sprache und bedeute „Schnäbelchen“. Na, dieser Name passte dann ja bestens! Becchi gefiel das Nest, was ihr Täuberich gebaut hatte, offenbar gut. Aber trotzdem hatte sie noch ein paar Verbesserungsvorschläge und zupfte hier und dort noch etwas zurecht, bevor sie richtig zufrieden war und ihr erstes Ei hinein legte. Zwei Tage später legte sie das zweite! Herr Täuberich war sehr stolz auf seine Frau. Beide wechselten sich beim Brüten ab und das Nadelbäumchen schützte sie mit seinen Zweigen, so gut es konnte, gegen Sonne, Wind und Regen. Es versuchte sie auch vor den neugierigen Blicken der Elstern zu schützen, die ja ganz gern einmal Nester plündern. Aber nicht das Nest seiner Tauben! Nein, das würde Nadelbäumchen nicht dulden! Ungeduldig wartete es darauf, dass die Jungen schlüpfen. Nach 17 oder vielleicht auch 18 Tagen war es dann endlich soweit! Es hörte ein zartes Piepsen aus dem Nest! Vater und Mutter Taube hatten nun richtig viel zu tun! Während der eine im Nest blieb und die Kleinen huderte, flog der andere ständig zur Futtersuche aus und kehrte dann mit vollem Schnabel zurück, um zu füttern. So ging das viele Tage. Als die Jungen etwas größer wurden, flogen dann die Eltern beide aus und ließen sie während der Futtersuche für mehrere Stunden allein. Sie kamen nun nur noch viermal täglich zum Nest, um ihre Jungen zu füttern. Das Nadelbäumchen hatte während dieser Zeit immer ein wachsames Auge auf sie und unterhielt sie mit Schattenspielen. Es staunte allerdings nicht schlecht, als es bemerkte, dass die Taubeneltern in einiger Entfernung bereits ein neues Nest bauten! Wozu brauchten sie denn ein Zweitnest? Als der Täuberich einmal von der Futtersuche zum Nest zurückkehrte, fragte ihn das Nadelbäumchen frei heraus. Der Täuberich erklärte es ihm: „Das machen wir Tauben schon seit Generationen so! Unsere Jungen bleiben ja nur 23 bis 25 Tage bei uns, dann wollen sie raus und verlassen die Nester. Wenn sie etwa 30 bis 35 Tage alt sind, können sie schon richtig fliegen und sich selbst versorgen. In der Zwischenzeit können wir im zweiten Nest schon neue Junge aufziehen. Da wäre es für alle zusammen zu eng im Nest ...“ Das leuchtete dem Nadelbäumchen ein. Becchi kam mit ein paar dünnen Zweigen im Schnabel angeflogen und stopfte sie sorgfältig ins neue Nest. Plötzlich schüttelte sie ihr Köpfchen, schaute zu ihrem Täuberich und gurrte: „Gugguuuh gu! Gugguuuh gu! Sag mal, was soll denn das? Ich versuche, das Nest in Ordnung zu halten, aber jedes Mal, wenn ich zurückkomme, finde ich Bruchstücke von Zapfen darin vor. Wer wirft die denn immer in unser Nest?“ Der Täuberich schüttelte verwundert den Kopf. Er konnte sich das auch nicht erklären. Aber das Nadelbäumchen kannte die Antwort auf ihre Frage: Die Bruchstücke fielen dem Eichhörnchen beim Knabbern herunter! Belka, das Eichhörnchen, fraß doch so gern Zapfen. Dabei war ihm leider völlig gleichgültig, dass es dabei Abfall produzierte, der genau ins neue Nest von Becchi und ihrem Täuberich fielen!
Kapitel 3 Nadelbäumchen und das Eichhörnchen
Das Nadelbäumchen bekam in letzter Zeit regelmäßig Besuch von Belka, dem rotbraunen Eichhörnchen. Ein niedliches Tierchen war das! Es hatte lustig nach oben stehende Pinselohren, stets munter blickende, pechschwarze Knopfaugen und einen tollen, buschigen Schwanz. Mit seinen kleinen, schlanken Füßchen kletterte es flink und geschickt an Nadelbäumchens Stamm empor, bis ganz weit oben – dorthin, wo einige Zapfen wuchsen. Es hatte lange Krallen an seinen Füßen, mit denen es sich mühelos an der Rinde des Baumes festhalten konnte. Manchmal sprang es auch munter von einem Ast zum anderen. Dabei ruderte es mit seinem buschigen Schwanz und landete immer genau da, wo es wollte. Es war geschickt wie ein Zirkuskünstler, sprang oder kletterte dabei so flink und leise, dass das Nadelbäumchen manchmal Mühe hatte, es nicht aus den Augen zu verlieren. Mitunter kam es vor, dass es das Eichhörnchen nur wiederfand, weil es an einigen Stellen seiner Äste kitzelig war. Ja, die spitzen Krallen des Eichhörnchens können schon ganz ordentlich piksen! Sehr gesprächig war das Eichhörnchen nicht! Es ließ bestenfalls ein paar Laute hören, die wie Schmatzen klangen. Das Nadelbäumchen mochte es sehr. Es vertrieb ihm die Langeweile, denn durch seine Umtriebigkeit gab es für das Nadelbäumchen etwas zu beobachten. Es hatte gesehen, wie und in welchen der benachbarten Bäume es sich Schlafnester bebaut hatte und auch, welches Baumaterial es dazu verwendet hatte: Viele, kleine Zweige und Laub hatte es dafür zusammengetragen und gleich mehrere Kobel daraus gebaut. Zum Mittagsschlaf zog es sich mal hierhin zurück, für die Nacht mal dorthin. Da war kein genauer Plan zu erkennen. An manchen Tagen spielten Kinder aus dem Wohngebiet auf der Wiese und wenn sie das Eichhörnchen sahen, lockten sie es mit Nüssen. Aber das Eichhörnchen spielte meistens erst einmal Verstecken mit ihnen. Es hüpfte auf sie zu, hielt dann plötzlich inne, machte Männchen und sprang dann flink davon. Wenn es allerdings großen Appetit hatte, huschte es nur bis zu einem der unteren Äste und wartete ab, bis sich die Kinder hinhockten und mucksmäuschenstill ihre Hände nach vorn streckten. Der verlockende Anblick dieser Nüsse brachte dann das Eichhörnchen dazu, allen Mut zusammenzunehmen und sich den Kindern vorsichtig zu nähern. Eines Tages war ein Kind mitgekommen, welches das Nadelbäumchen bisher noch nie gesehen hatte. Vielleicht war es mit seinen Eltern erst vor kurzem hierher gezogen oder nur zu Besuch? Das ließ sich auf die Schnelle nicht herausbekommen. Natürlich hätte das Nadelbäumchen die Kinder ja auch einfach danach fragen können. Aber was hätte es genützt? Es kannte zwar ihre Sprache, aber die Kinder verstanden ja seine leider nicht. Eines der Kinder hatte gerade vorgeschlagen, Verstecken zu spielen, als ein anderes das Eichhörnchen entdeckte. Schnell legte es seinen rechten Zeigefinger vor seinen Mund und flüsterte: „Psst! Seht doch! Belka ist wieder da! Hat jemand Nüsse einstecken?“ „Wer ist denn Belka?“, fragte da das – dem Bäumchen – unbekannte Kind. „Belka, so heißt das Eichhörnchen. Sieh mal, da oben sitzt es! Aber sei still, sonst fürchtet es sich und traut sich nicht herunter!“ Durch dieses Erlebnis hat der kleine Nadelbaum den Namen des Eichhörnchens erfahren. Seitdem begrüßt er es bei jedem Besuch mit einem: „Hallo Belka! Willkommen und schön, dich zu sehen! Hab Spaß beim Klettern und pass gut auf dich auf! Du darfst überall auf mir herumklettern und auch meine Zapfen fressen. Nur um eine Sache bitte ich dich: Lass die Nester der Tauben in Ruhe! Die Tauben sind meine Freunde! Wenn du ihren Jungen etwas zuleide tust, schüttle ich dich ab!“ Ob Belka die Worte des Nadelbäumchens wohl verstanden hat? Niemand kann das genau sagen – aber bis heute ist den Taubenjungen im Nadelbäumchen noch nie ein Leid geschehen.
Kapitel 4 Nadelbäumchen erlebt ein Abenteuer
Es geschah einmal an einem sonnigen Nachmittag, dass Kinder aus dem Wohngebiet auf Nadelbäumchens Wiese gemeinsam Ball spielten. Der bunte Ball gehörte einem Kind, das im Erdgeschoss des Hauses wohnte, vor dessen Balkon das Nadelbäumchen gepflanzt worden war. Obwohl das Nadelbäumchen gar nicht dicht am Balkon stand, sondern ziemlich in der Mitte der Wiese, hatte es einen guten Einblick in die Wohnung. Zum Weihnachtsfest hatte es so wehmütig in die Wohnstube geschaut, den toll geschmückten Weihnachtsbaum bewundert und sich gar nicht sattsehen können daran. Damals war es sein größter Wunsch gewesen, auch so schön geschmückt in einem Wohnzimmer, oder wenigstens auf einem Balkon, zu stehen. Zum Glück hatte sein Freud, der Täuberich, es dann aber darauf hingewiesen, dass es froh darüber sein könne, ungestört auf seiner Wiese wachsen zu können. Da es aber immer wieder in diese Stube geschaut hatte, hatte es auch beobachtet, dass der Weihnachtsmann am Heiligabend bei der Bescherung in jener Wohnung diesen bunten Ball aus seinem Sack geholt und dem Kind geschenkt hatte. Und an jenem Nachmittag hatte das Kind den Ball nun zum Spielen mit auf die Wiese gebracht. Die anderen Kinder hatten sich nicht lange bitten lassen und nun spielten sie alle gemeinsam. Sie flitzen kreuz und quer über die Wiese. Mal jagte eine den Ball vor sich her, mal war ein anderes Kind schneller und schoss den Ball in eine andere Richtung. Was für ein fröhliches Treiben! Doch dann geschah, was geschehen musste: Ein Kind kickte den Ball mit so viel Schwung in die Höhe, dass dieser von den anderen nicht mehr zu fangen war. Wenn das Nadelbäumchen nicht im Wege gestanden hätte, wäre der Ball jetzt wohl mit hoher Geschwindigkeit in eine Fensterscheibe gesaust! Aber es rief blitzschnell den Wind zu Hilfe, dieser schickte fix eine Böe unter die Zweige. Dadurch wehten sie ein Stückchen hoch und so konnte das Nadelbäumchen mit ihnen den Ball fangen! Erschrocken schauten die Kinder dem Ball hinterher und eines, das schon das Schlimmste befürchtete, hielt sich die Ohren zu und hockte sich mit geschlossenen Augen hin. Aber das erwartete Klirren einer zerbrochenen Scheibe blieb aus, denn der Ball war ja im Geäst des Nadelbäumchens gelandet! Dabei hatte er gleich mehrere Zweige abgebrochen und das Nadelbäumchen schrie vor Schmerz auf. Die Kinder konnten dies allerdings nicht hören. Für menschliche Ohren ist die Sprache der Pflanzen ja nicht wahrnehmbar. Für das Nadelbäumchen fühlte sich der Schmerz aber so ähnlich an, wie wenn ein Mensch sich verletzt. Und verstauchte oder gar gebrochene Finger schmerzen schon ziemlich doll! Allerdings waren die abgebrochenen Zweige nicht seine größte Sorge. Viel mehr sorgte es sich um die Kinder, denn es hörte, wie sie darüber sprachen, dass sie sich nun etwas einfallen lassen müssten, um den Ball vom Baum herunter zu holen. Die Knirpse planten doch tatsächlich, auf es zu klettern? Das war doch viel zu gefährlich für sie! Abgesehen davon war es auch gut möglich, dass ihm dabei weitere Zweige abgebrochen würden! Es überlegte angestrengt, was es unternehmen könnte, um sie davon abzuhalten. Da war guter Rat teuer! Sollte es den Wind noch einmal um Hilfe bitten? ‚Warum nicht!‘, dachte es sich und rief nach ihm. Aber dieses Mal hörte ihn der umtriebige Geselle wohl nicht, denn es bekam keine Antwort. Doch von anderer Stelle kam Hilfe: „Gugguuuh gu! Gugguuuh gu!“,war zu hören. Der Täuberich und seine Frau kamen gerade rechtzeitig von ihrer Futtersuche zurück zum Nest geflattert! Die beiden wussten sofort, was zu tun sei! Sie flogen zum Ball und pickten mit ihren Schnäbeln nach ihm – vorsichtig genug, um ihn nicht zu beschädigen, aber auch stark genug, um ihn herunter zu schubsen. Sie achteten dabei auch darauf, dem Nadelbäumchen nicht auf die Bruchstellen zu treten. „Hast du starke Schmerzen?“, erkundigte sich Becchi, die Taubendame, fürsorglich. „Dankeschön, dass du nachfragst! Es geht schon wieder!“, sagte da das Nadelbäumchen, „Ich habe schon etwas Harz darüber quellen lassen und die Wunden verschlossen. Der ist mein Pflaster und lindert den Schmerz.“ Die Kinder freuten sich sehr, dass sie den Ball zurückbekommen hatten, ohne hochklettern zu müssen. Eines sagte nachdenklich: „Stellt Euch mal vor, was jetzt alles hätte passieren können! Der Ball hätte in eine Scheibe fliegen können, Die wäre hin gewesen! Das hätte Ärger gegeben!“ „Oder wir hätten uns beim Hochklettern die Sachen zerissen oder uns verletzt!“, sagte ein anderes. „Ja, klar ... Hätte, wenn und würde ...“,sagte ein weiteres. „Auf jeden Fall passen wir beim nächsten Mal besser auf, dass wir den Ball nicht so hoch kicken!“, meinte jemand. Inzwischen war es fast Abend geworden. Ein Fenster wurde geöffnet, aus diesem rief eine Mutter ihr Kind zum Essen nach Hause. Für heute verabschiedeten sich die Kinder voneinander und liefen nach Hause. Das Kind, dem der Ball gehörte, blieb als einziges noch für einen Moment stehen, schaute das Nadelbäumchen dankbar an und sagte: „Du kannst mich vielleicht nicht verstehen, aber ich möchte mich trotzdem bei dir und den Tauben bedanken. Hättest Du den Ball nicht gefangen und die Tauben ihn nicht herunter geschubst, dann wäre es schlecht ausgegangen!“ Das Nadelbäumchen und die Tauben freuten sich riesig darüber! Dankbarkeit zu zeigen, das ist heutzutage leider sehr selten geworden. Und sie konnten das Kind so gut verstehen, auch wenn es das nicht wusste. „Gugguh gu! Gugguh gu!“, riefen die Tauben und das Nadelbäumchen nickte, so gut es ging, mit seinem Wipfel. Da fühlte das Kind sich plötzlich innerlich wohler und lief nun zufrieden heim. Zwar konnte es Bäumchen und Tauben nicht verstehen, aber es schien zu fühlen, dass sie seine Dankbarkeit wahrgenommen hatten und sich darüber freuten. Als es seinen Blicken entschwunden war, sagte Nadelbäumchen zu den Tauben: „Freunde, das war ein richtiges Abenteuer für mich!“
Читать дальше