Die Herren traten auf die niedrige Treppe des Ladens hinaus und schauten auf den Marktplatz hinab. Die Vorübergehenden blieben stehen und musterten Lanins Neuen, der dann seine schöne Gestalt reckte, einige abgerundete Bewegungen mit den Armen machte oder auch wohl, auf das Rathaus deutend, mit lauter Stimme sagte: »Der Bau ist gut – der sogenannte Renaissance-Stil.«
Es war schon spät abends. Herr Lanin blinzelte heftig mit den Augenlidern, gähnte einige Mal diskret und zog sich dann in sein Studierzimmer zurück, um noch einen juristischen Fall zu überdenken. Frau Lanin wurde in ihrem großen Sessel sehr schweigsam. Fräulein Sally aber und Ambrosius saßen noch am Fenster beieinander und lernten sich kennen. Die Lampe war nicht angezündet worden. Ein graues Zwielicht waltete im Gemach. Die Tische, die Sessel, die Hausfrau lagen wie dunkle Schattenmassen im Hintergrunde. Im helleren Rahmen des geöffneten Fensters zeichneten sich die Profile der beiden jungen Leute scharf ab. Diese Profile bewegten sich, näherten sich, fuhren wieder auseinander, beugten sich dann wieder gemessen und höflich vor. Die Unterhaltung ward halblaut geführt; mit gewisser Regelmäßigkeit wechselte der Diskant mit dem Baß.
»O ja, ich habe eine Freundin«, sagte Fräulein Sally weich.
»Wirklich? Doch natürlich!«
Ambrosius' Stimme klang, als müsse er beständig das Lachen unterdrücken. »Natürlich! Eine jede junge Dame hat eine Freundin. Natürlich!«
»Natürlich?« meinte Fräulein Sally und neigte ihren Kopf melancholisch zur Seite. »Es ist nicht so natürlich. Nicht eine jede hat das Glück, eine Seele zu finden, die sie versteht. Mir – mir fällt es besonders schwer, denn, sehen Sie, Cousin, ich verlange viel – sehr viel.«
»Aber Sie haben gefunden?«
»Ja! Vielleicht! Das heißt, wir lieben uns; aber – verstehen Sie, ich werde mehr geliebt. Es ist vielleicht nicht recht, aber – – –« Fräulein Sally schwieg und sann in das Dämmerlicht hinein.
»Ich verstehe – hm –« versetzte Ambrosius, »Sie sind, sozusagen, mehr empfangend; das Fräulein Freundin mehr gebend – hm – hingebend. Sie, Cousine, sind dann wohl auch mehr herrschend?«
»Vielleicht.«
»Oh, gewiß, gewiß!« neckte Ambrosius.
»Aber ich liebe sie dennoch sehr.«
»Haben Sie keine Geheimnisse voreinander?«
»Sie hat keines, nein; aber ich« – Fräulein Sally seufzte und legte die Hand auf diejenige Stelle des schwarzen Kleides, unter der das geheimnisvolle Herz schlug. Ambrosius lachte heftig und drohte mit dem kleinen Finger. Er fand das köstlich. »Also, Sie haben doch Ihre Geheimnisse. Damen haben immer Geheimnisse, immer.«
»Herren nicht?« fragte Sally schelmisch.
»Nein! Das ist Sache der Damen. Ich wüßte gern diese Geheimnisse.«
»Oh, die Herren sind immer so neugierig.«
»Es ist Wißbegierde. Neugierig sind ja – hm – spezifisch die Damen. Streiten Sie nie mit Ihrer Freundin?«
»Nie!« sagte Sally fest.
»Damen streiten ja sonst so gern.«
»Ich dächte, das kommt auch bei den Herren vor.«
»Nun – und wie heißt denn diese Freundin?«
»Rosa Herz.«
»Herz – hm – ein guter Name. Ist sie hübsch?«
Ambrosius lächelte dabei ein leichtfertiges Lächeln, als wäre seine Frage sehr kühn und gottlos.
»Hübsch?« erwiderte Sally sinnend, »eigentlich nicht, das heißt, die Herren finden sie nicht hübsch, glaube ich. Mir gefällt ihr Gesicht. Die Herren urteilen auch immer so streng.« Ambrosius lachte; dann ward er ernst, blickte melancholisch auf den Marktplatz hinab und meinte: »Ach nein! Die Damen sind hart und grausam.« So ging die Unterhaltung fort, als plötzlich ein lautes Stöhnen aus der Ecke, in der Frau Lanin saß, erscholl.
»Was ist dir, Mama?« rief Fräulein Sally.
»Ach Gott!« wimmerte Frau Lanin, »wie bin ich erschrocken! Mein Gott!«
»Was gibt's denn? Sage!«
»Mir träumte, ich zerschlug die große Lampe. Pfui! Mein Gott!«
»Wie kann man so etwas träumen!« meinte Fräulein Sally verächtlich, und Ambrosius fügte tröstend hinzu: »Träume sind ja nur Schäume.«
»Gott sei Dank, ja! Aber ein Schreck war das!« klagte die alte Dame, »nun ist's vorüber. Gehen wir zu Bett. Gute Nacht, Ambrosius.«
Auch Fräulein Sally reichte ihrem Vetter die Hand und sagte: »Denken Sie daran, was ich Ihnen sagte.« – »Gewiß, ganz gewiß! Das vergesse ich nicht«, versicherte er und drückte zart die kleine Hand, obgleich er nicht sicher war, welchen der Ausfälle gegen »die Herren« er sich merken sollte.
Beim nächsten Zusammentreffen in der Schule schenkte Fräulein Sally ihrer Freundin keine Beachtung. Sie hatte für Rosa nur flüchtige Mitleidsblicke. Sie tat ihr leid, das arme Geschöpf, das keinen Vetter hatte, mit dem sie sich geistreich necken konnte. Noch wollte sie ihr aber nichts von diesem Vetter erzählen, der Verrat an der Freundschaft mußte bestraft werden. Fräulein Sally ließ sich nur herbei, gegen Marianne Schulz leichthin zu bemerken: »Gott, ich bin müde! Ich habe mich gestern bis spät in die Nacht hinein mit meinem Cousin unterhalten.«
Marianne riß die Augen auf und fragte: »Haben Sie denn einen Cousin?«
Fräulein Sally lachte und stieß ihre Nachbarin mit dem Ellenbogen: »Hören Sie doch! Marianne weiß nicht einmal, daß gestern mein Cousin angekommen ist.«
»Aber Marianne!« meinte die Nachbarin verächtlich.
Allzulange vermochte Fräulein Sally jedoch nicht zu zürnen.
Als Rosa am Nachmittage über den Marktplatz ging, winkte Fräulein Sally ihr freundlich zu und rief: »Rosa, mein Herz! Wohin?«
Rosa trat an das Fenster und berichtete: Zu Hause sei es zu schwül gewesen, darum sei sie spazierengegangen.
Fräulein Sally saß am Fenster und hielt einen Roman in der Hand. Es war noch jemand im Gemach und rauchte. Rosa vermochte ihn nicht deutlich zu sehen, da er seitab vom Fenster stand, sie zweifelte jedoch nicht daran, daß es der Neue sei.
»Kommst du nicht herein, liebe Rosa? Es sitzt sich hier ganz allerliebst.«
Rosa fand ihre Freundin heute ungewöhnlich sanft; auch bemerkte sie an ihr einige feine Handbewegungen, die sie noch nicht kannte. Sie wunderte sich nicht darüber, denn die Zigarette, die im Hintergrunde des Gemaches leuchtete, übte auch auf Rosa ihren Einfluß aus und machte, daß sie manches tat und sagte., was ihr nicht ganz natürlich war.
Rosa wollte der Einladung ihrer Freundin nicht Folge leisten, sie hatte sich vorgenommen, spazierenzugehen, und Sally wußte ja, wenn sie sich etwas vornahm...
»Oh, der kleine Eigensinn!« rief Fräulein Sally. »Aber ich begleite dich, mein Herz.« Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht kommt er mit. Cousin«, sprach sie dann in das Zimmer hinein, »Sie machen wohl auch eine Promenade?«
»Unmöglich«, verlautete die Stimme aus dem Hintergrunde. »Unmöglich – bei dieser Hitze! Sie scherzen, Cousine!«
»Durchaus nicht«, erwiderte Fräulein Sally. »Gott, was die Herren verwöhnt sind!«
»Nicht doch«, rief Ambrosius und trat an das Fenster. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es geht nicht; ich muß ins Geschäft. Sonst – oh!«
Fräulein Sally erhob sich mit einem so ernsten Gesicht als wollte sie ein Vaterunser sprechen, und sagte: »Mein Cousin Tellerat – meine Freundin Rosa Herz.«
»Ah – es freut mich.« Ambrosius verbeugte sich. »Es tut mir leid, die Damen nicht begleiten zu können – in der Tat. Oh, meine Damen, Sie wissen nicht, was das heißt: Geschäfte im August.«
Fräulein Sally drohte neckisch mit dem Finger und hielt es für Trägheit, er aber legte die Hand auf das Herz und beteuerte das Gegenteil.
»Gut, wir gehen also allein. Ich hole meinen Hut.« Mit diesen Worten hüpfte Fräulein Sally davon.
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