LUNATA
Fräulein Rosa Herz
Fräulein Rosa Herz
Eine Kleinstadtliebe
© 1887 Eduard von Keyserling
© Lunata Berlin 2020
Vorwort Vorwort Ich weiß sehr wohl, daß Rosa Herz nur ein unbedeutendes armes Mädchen ist, das ein Schicksal erleidet, wie es unzählige unbedeutende arme Mädchen erleiden. An ihr und ihrem Schicksal ist somit nichts, was des Aufhebens wert wäre. Dennoch – könnte ich bewirken, daß der Leser diese unbedeutende Mädchenseele und dieses gewöhnliche Schicksal nachfühlt und nachlebt, so würde ich glauben, demjenigen mit meiner Erzählung willkommen zu sein, der, nicht zufrieden, nur ein Leben und eine Seele zu besitzen, gern fremdes Leben in sich aufnimmt. Da ist es denn gleich, ob es ein König oder ein armes Mädchen ist; nur ein Menschenleben – wirkliches Leben – muß es sein – »ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, sagt der Prediger Salomonis. Der Verfasser
Erstes Buch Erstes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Zweites Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Drittes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Viertes Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
So di che poco canape s'allaccia
Un' anima gentil, quand' ella é sola
E non é chi per lei di fesa faccia.
Petrarca
Ich weiß sehr wohl, daß Rosa Herz nur ein unbedeutendes armes Mädchen ist, das ein Schicksal erleidet, wie es unzählige unbedeutende arme Mädchen erleiden. An ihr und ihrem Schicksal ist somit nichts, was des Aufhebens wert wäre. Dennoch – könnte ich bewirken, daß der Leser diese unbedeutende Mädchenseele und dieses gewöhnliche Schicksal nachfühlt und nachlebt, so würde ich glauben, demjenigen mit meiner Erzählung willkommen zu sein, der, nicht zufrieden, nur ein Leben und eine Seele zu besitzen, gern fremdes Leben in sich aufnimmt. Da ist es denn gleich, ob es ein König oder ein armes Mädchen ist; nur ein Menschenleben – wirkliches Leben – muß es sein – »ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, sagt der Prediger Salomonis.
Der Verfasser
Erstes Buch
Den Ort, an dem Fräulein Rosa Herz das Licht der Welt zuerst erblickt hatte, vermochte keiner anzugeben. Wo ihre Wiege gestanden – ob sie überhaupt je eine Wiege besessen –, wer konnte es wissen! Über jenen Teil von Fräulein Rosas Leben hatte sich undurchdringliches Dunkel gebreitet.
Herr Klappekahl, der Apotheker, war gewiß ein Mann von seltenem Scharfblick. Ein halbes Jahr hatte er in der Residenz verlebt, und die Früchte jenes Aufenthaltes, ohne Zweifel, waren: Weltklugheit, Bildung, skeptische Klarheit in der Beurteilung der verwickeltsten Verhältnisse; Eigenschaften, die ein jeder ihm zuerkannte. Vielleicht auch ein Anflug von Frivolität, aber – »mein Gott!« meinte er, »wer kann sich in der verderbten Weltstadt davor bewahren!« Herr Klappekahl nun pflegte zu sagen, wenn das Gespräch auf Rosa Herz kam: »Ihren Geburtsort? Gott, wer soll den kennen! Solche arme Würmer kommen ebenso geräuschlos und plötzlich zur Welt wie die Pilze nach dem Sommerregen. Gelegentlich einmal, während eines Zwischenaktes, hinter einer alten Kulisse, was weiß ich! – Das Publikum klatscht und ruft. Dann tritt der Regisseur vor und dankt, denn die Fee oder der Engel kann nicht erscheinen, ein kleines Unwohlsein... Und in einer Ecke hört man's piepen. In einer verstaubten Papprüstung – auf einem wackeligen Theaterthron liegt etwas in Gazefetzen gewickelt und wimmert. Das ist dann das Kind, Fräulein Soundso, Fräulein Rosa. Es wird mit all dem Plunder zusammengepackt, und weiter geht es. Glauben Sie, Madame Herz oder Monsieur Springinsfeld erinnerten sich schließlich selbst daran, wo die Geschichte mit dem Kinde passierte? Gott bewahre! Das geht alles so geschwind; heute hier, morgen dort. Ich kenne das!«
Was kannte Herr Klappekahl nicht! Und hier hatte er, wie sonst immer, recht. Rosas Mutter war Balletttänzerin, ihr Vater Balletttänzer gewesen. Während des rastlosen Umherziehens von einer Stadt zur anderen war Rosa geboren worden; doch kostete ihre Geburt der armen Madame Herz das Leben. Herr Herz – traurig, einsam, des Tanzens müde, sehnte sich danach, sein unstetes Leben mit einem ruhigeren zu vertauschen. Auf diesem Standpunkte angelangt, gedachte er wieder seiner Heimatstadt.
Als Knabe hatte er sie verlassen, zum Leidwesen seines Vaters, des braven Schustermeisters Herz, um, statt für die Füße anderer Leute zu sorgen, sich mit den seinigen unsterblichen Ruhm zu erwerben. Jetzt sehnte sich sein alterndes Herz nach der friedlichen Heimat zurück. Sein Vater war längst tot, aber eine Schwester lebte ihm noch; eine musterhafte Schwester. Als Herr Herz von dem Verluste seiner Gattin betroffen ward, langte ein schwarzgerändertes Schreiben von Frl. Ina Herz an, voll schwesterlichen Bedauerns und frommer Ermahnungen. Am Schluß meinte die gute Seele: Da die kleine Rosa der mütterlichen Pflege beraubt sei, möge man ihr das Kind bringen; sie wolle für dasselbe sorgen und ihm eine zweite Mutter sein. – Gerührt von soviel Liebe, beschloß Herr Herz, nicht nur das Kind, sondern auch sich selbst der Sorgfalt seiner guten Schwester anzuvertrauen. So begab er sich denn mit seiner Tochter in seine Heimatstadt zurück.
Anfangs zwar war Fräulein Ina über diese Wendung der Dinge ein wenig bestürzt; aber ihre mutige Seele fand sich selbst in die neue Lebenslage hinein. Die ganze Familie Herz versammelte sich traulich um einen Herd und lebte in Eintracht von dem kleinen Vermögen des Fräulein Ina, denn Herr Herz hatte aus seiner langen Künstlerlaufbahn nur steife Beine und greise Haare gerettet. »Ertanztes Geld«, meinte er – und er hatte seinerzeit viel ertanzt – »sei, weiß es Gott, das unbeständigste der Welt!«
Fräulein Ina pflegte ihre Schutzbefohlenen mit jener zarten Aufopferung, die besonders alten Frauenherzen eigen zu sein scheint, denen das Leben es lange Zeit versagt hat, ihre Liebebedürftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die müden Füße des Balletttänzers durften jetzt in bequemen Pantoffeln ausruhen, und die stille, geordnete Häuslichkeit gewährte dem geplagten Komödianten-Herzen ein tiefes Behagen. Herr Herz wurde mit seiner alten Schwester selbst zur alten Jungfer. Er besuchte fleißig die Kirche, ward Mitglied des Armenvereines; sammelte eifrig die kleinen Ereignisse der Stadt, um sie eifrig wieder auszutragen. Sah man die Geschwister Herz beieinander, so fand man mehr männliche Entschlossenheit in Fräulein Ina als in ihrem Bruder.
Auf die kleine Rosa ward die äußerste Sorgfalt verwandt. Fräulein Ina ließ das Kind nicht aus den Augen; es mußte zu ihren Füßen auf dem Teppich spielen, sie sang es des Abends mit tiefer, heiserer Stimme in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kirche mit. Rosa schlief zwar während des ganzen Gottesdienstes; Fräulein Ina jedoch meinte, der bloße Aufenthalt in dem heiligen Raum müßte guttun; vielleicht hoffte sie auch dadurch gewisse weltliche Einflüsse zu bannen, die bei der Geburt des Kindes gewaltet haben mochten.
Nachdem Herr Herz sich eine Zeitlang ausgeruht hatte, fühlte er wieder den Drang nach Beschäftigung in sich erwachen, auch quälte ihn das Bewußtsein, nur auf die Mildtätigkeit seiner Schwester angewiesen zu sein. Die Stelle eines Turnlehrers am städtischen Gymnasium war frei. Er bewarb sich um dieselbe und erhielt sie. Daneben erbot er sich, jährlich, von Weihnacht bis zu den Fasten, den heranwachsenden Herren und Damen des Städtchens Tanzunterricht zu erteilen.
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