Ganz kurz fing Winston den Blick von O’Brien auf. Dieser war aufgestanden, hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase zu setzen. Aber es gab jenen winzigen Bruchteil einer Sekunde, in dem sich ihre Blicke trafen, und während dieser kaum wahrnehmbaren Zeitspanne wusste Winston – ja, er WUSSTE es –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er selbst. Eine unmissverständliche Nachricht war empfangen worden. Es war, als hätte sich ihrer beider Geist geöffnet und ihre Gedanken wären von einem zum anderen durch ihre Augen geflossen. „Ich bin bei dir“, schien O’Brien zu sagen. „Ich weiß genau, was du fühlst. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deinen Ekel. Doch mach’ dir keine Sorgen: Ich bin auf deiner Seite!“ Und dann war jenes Aufscheinen des Erkennens verschwunden und O’Briens Gesicht wieder so undurchschaubar gewesen wie das eines jeden anderen auch.
Das war alles, und Winston war bereits jetzt schon unsicher, ob es überhaupt geschehen war. Solche Ereignisse hatten nie eine Fortsetzung. Alles, was sie verursachten, war lediglich, in ihm den Glauben oder die Hoffnung wach zu halten, dass auch noch andere außer ihm selbst Feinde der Partei waren. Vielleicht waren die Gerüchte über riesige Verschwörungen im Untergrund doch wahr – vielleicht gab es ja die Bruderschaft tatsächlich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen war es unmöglich, sicher zu sein, dass die Bruderschaft nicht doch nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er an sie, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Blicke, die alles oder nichts bedeuten konnten: Momentaufnahmen von belauschten Gesprächen, schwache Kritzeleien an Toilettenwänden und einmal, als sich zwei Fremde trafen, sogar eine kleine Handbewegung, die ausgesehen hatte, als könnte sie ein Zeichen des Erkennens sein. Es waren alles Vermutungen, und sehr wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in seine Kabine zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal anzusehen. Die Idee, ihren Kontakt weiter zu verfolgen, kam Winston kaum in den Sinn. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es hätte anstellen sollen. Sie hatten kurz einen zweideutigen Blick ausgetauscht, und das war auch schon das Ende der Geschichte. Aber selbst das war ein denkwürdiges Ereignis in der verschlossenen Einsamkeit, in der es sonst zu leben galt.
Winston richtete sich auf und setzte sich gerader hin. Er rülpste. Der Gin stieg ihm aus dem Magen.
Seine Augen konzentrierten sich wieder auf das Blatt. Er entdeckte, dass er während seiner hilflosen Grübelei geschrieben hatte wie von selbst. Und es war nicht mehr die gleiche verkrampfte, unbeholfene Handschrift wie zuvor. Sein Stift war ausladend über das feine Papier geglitten und hatte in großen, sauberen Großbuchstaben geschrieben, immer und immer wieder, eine halbe Seite voll:
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER.
Er konnte nicht anders, als einen Anflug von Panik zu verspüren. Das war zwar absurd, weil das Schreiben dieser speziellen Worte nicht gefährlicher war als der anfängliche Akt der Eröffnung des Tagebuchs, aber für einen Moment war er versucht, die verdorbenen Seiten herauszureißen und das Unternehmen ganz aufzugeben.
Er tat es nicht, denn er wusste, dass es nutzlos war. Ob er NIEDER MIT BIG BROTHER schrieb oder darauf verzichtete, es zu schreiben, war unerheblich, und ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder es nicht weiterführte, letztlich gleichgültig: Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so erwischen. Er hatte – und hätte selbst dann, wenn er die Feder nie zu Papier gebracht hätte – das wesentliche Verbrechen schon begangen, das alle anderen bereits in sich trug: Gedankenverbrechen. Und das war keine Sache, die sich für immer verbergen ließ. Es war zwar möglich, damit für eine Weile durchzukommen, sogar für Jahre, aber früher oder später erwischten sie jeden.
Es war immer nachts; die Verhaftungen geschahen immer nachts. Der plötzliche Ruck aus dem Schlaf, eine rauh zupackende Hand an der Schulter, blendendes Licht in den Augen, ein Ring von harten Gesichtern um das Bett. In den weitaus meisten Fällen gab es keinen Prozess, ja nicht einmal einen Bericht über die Verhaftung: Die Betroffenen verschwanden einfach, immer nachts. Ihr Name wurde aus jedem Register gestrichen, ebenso alles, was sie jemals getan hatten und gewesen waren; ihre gesamte Existenz damit zunächst bestritten und dann vergessen. Sie wurden spurlos ausgerottet, vernichtet; VAPORISIERT war der übliche Begriff dafür.
Vorübergehend wurde Winston von einer Art Hysterie erfasst. Er begann zu schreiben in einer eiligen unordentlichen Krakelschrift:
siewerden mich erschießn istmir egal sie werdnmir in den Nackn schießn was kümmertsmich nieder mit big brother sie schießn immer inden Nackn was solls egal nieder mit big brother...
Er lehnte sich leicht beschämt auf seinem Stuhl zurück und legte den Stift ab. Im nächsten Moment erschrak er gewaltig: Es klopfte an der Tür.
Jetzt schon! So schnell? Er saß mucksmäuschenstill in der vergeblichen Hoffnung, wer immer es war, der da klopfte, möge nach einem einzigen Versuch wieder verschwinden. Aber nein, es hörte nicht auf. Das Schlimmste von allem wäre es jetzt, nicht schnell genug zu antworten. Sein Herz schlug wie eine Trommel, aber sein Gesicht war aus langer Gewohnheit heraus wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und beeilte sich, zur Tür zu gehen.
Als er gerade den Türknauf berührte, bemerkte Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch liegengelassen hatte. NIEDER MIT BIG BROTHER war quer über die Seite geschrieben, in so großen Buchstaben, dass sie fast über das ganze Zimmer hinweg lesbar waren. Derart leichtsinnig gewesen zu sein, war eine unvorstellbare Dummheit, aber ihm wurde klar, dass er selbst in seiner Panik das cremige Papier nicht hatte verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, während die Tinte noch feucht war.
Er holte Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung: Eine farblose, zerstört aussehende Frau mit zerzaustem Haar und einem zerknitterten Gesicht stand draußen.
„Oh, Genosse“, begann sie mit einer traurigen, jammernden Stimme, „ich dachte, ich hätte Sie gehört. Könnten Sie vielleicht rüberkommen und einen Blick auf unsere Küchenspüle werfen? Sie ist verstopft und...“
Es war Frau Parsons („Frau“ war ein von der Partei etwas missbilligtes Wort – die richtige Anrede für alle war „Genossinnen und Genossen“ –, aber bei manchen Frauen fühlte sich „Frau“ doch instinktiv richtiger an), die Ehefrau eines Nachbarn im gleichen Stockwerk. Sie war um die dreißig, sah aber viel älter aus und machte den Eindruck, als hätte sich Staub in ihren Gesichtsfalten festgesetzt. Winston folgte ihr den Flur entlang. Diese dilettantischen Reparaturen waren eine fast tägliche Belästigung: Die Wohnungen im Victory- Gebäude waren alt, aus den 1930ern, und lösten sich langsam in Einzelteile auf: Der Putz fiel in kleinen und großen Stücken von Decken und Wänden ab, die Rohre platzten bei jedem harten Frost, das Dach war undicht bei Schneefall, und die Heizung, wenn sie nicht ohnehin aus wirtschaftlichen Gründen vollständig abgestellt war, lief üblicherweise nur auf halber Leistung. Was die Bewohner des Hauses an Instandhaltungen nicht selbst erledigen konnten, musste von weit entfernten Ausschüssen erst genehmigt werden, und so konnte es durchaus zwei Jahre dauern, bis eine einfache Fensterscheibe endlich repariert wurde.
„Ich frage nur, weil Tom nicht ...“, sagte Frau Parsons zaghaft.
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