Ayda rechnete es Lando hoch an, dass er sich so mutig gegen Rubion stellte. Vielleicht hätte der dritte Mann sich gar nicht gemeldet, wenn Lando nicht vorgetreten wäre, und ihr wäre dann keine Wahl geblieben, als mit Rubion zu gehen. Ayda wusste, dass Jaron und Lando wie Brüder waren, und obwohl sie spontan zu ihrem Freund tendierte, zögerte sie doch genau aus diesem Grund.
Er war ein wunderbarer Mann, doch sie wusste, dass er selbst das ganz anders sah. Er reduzierte sich auf sein schlimmes Bein, was sie völlig unsinnig fand. Wenn Lando durch den Ort ging, folgten ihm die Blicke der ledigen Frauen, und schon oft hatte Ayda darin Begehren gelesen. Lando sah gut aus, mit seinem hellen, lockigem Haar und den blauen Augen, die er von seinen Eltern geerbt hatte und die in Endora etwas Außergewöhnliches waren. Früher hatte Lando sein Aussehen gehasst. Er hatte seine Haare mit Lehm beschmiert, damit er den anderen Jungen ähnlicher sah, später trug er oft eine Lederkappe oder die Kapuze seiner Jacke. Angeblich wollte er sich tarnen, damit er besser jagen konnte, aber das hatte Ayda ihm nie abgenommen. Zum Glück schien Lando sich heute zumindest mit seinem Aussehen abgefunden zu haben. Den Bart stutzte er sauber zurecht, und wenn er lachte, blitzten weiße Zähne, die sogar noch vollständig waren, was hier ebenfalls eine Seltenheit war. Landos Oberkörper wirkte sehr kräftig, doch an der Taille wurde er schmal, fast wie bei einer Frau. Ayda fand das insgeheim aufregend, denn die anderen Männer die sie kannte, hatten eine stämmige Figur, auch Jaron.
Lando strahlte immer noch etwas Jugendliches aus, obwohl er ein Jahr älter war als sie. Ganz erwachsen war er nie geworden, und hinter seinen Himmelsaugen sah sie immer wieder den unbeschwert herumspringenden Jungen, der es nicht fertigbrachte, lange still zu sitzen. Es musste eine Qual für ihn gewesen sein, nach seinem Unfall so lange nicht aufstehen zu dürfen.
Ayda wandte sich zögernd Kahn zu, den sie nur wenige Male gesehen und mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatte. Sie fühlte sich durch seine enorme Größe eingeschüchtert, obwohl seine Stimme angenehm klang und er freundliche Absichten zu haben schien. Vielleicht war es wirklich am besten ihn zu wählen, einen völlig Unbekannten, mit dem sie nichts verband. Sollte Jaron heimkommen und seine Familie zurückverlangen, hätte er in Kahn einen fremden Nebenbuhler vor sich, allerdings auch einen sehr starken. Verzweifelt sah sie dem großen Mann in die, für sein kantiges Gesicht viel zu sanften Augen.
Was sollte sie nur tun? So gerne sie an Jarons Rückkehr glauben wollte, so unsinnig schien sie. Der Rat würde sie doch nicht neu vergeben, wenn sie nicht sicher waren, dass ihr angestammter Ernährer tot war, oder? Zu gerne hätte sie nach einer Erklärung verlangt, aber Dimetrios hatte schon zu Anfang klar gemacht, dass er ihr als Frau keine Rechenschaft schuldig war.
„Willst du selbst entscheiden, oder soll ich es für dich tun?“, fragte der Ratsherr, dem anzumerken war, dass er nicht länger warten wollte.
Ayda versuchte, sich zusammenzureißen. Sie straffte die Schultern und ging einen kleinen Schritt auf Lando zu. Ihr Sohn Bale hatte sie längst los gelassen, nur Banja klammerte sich weiter an ihren langen Rock. Die Kinder kannten Lando gut. Er war wie ein Freund für sie und hatte schon oft mit ihnen und Jaron Ausflüge unternommen. Er hatte Bale einige Fallen gezeigt, die der Junge selbst stellen konnte, und Ayda verstand nicht, warum ihr Sohn sich jetzt so abweisend benahm. Ihr missfiel es ebenfalls, dass Jaron ersetzt werden sollte, aber was konnte sie dagegen tun?
„Triff jetzt deine Entscheidung, Ayda“, forderte Dimetrios sie unmissverständlich auf. Wie sollte sie eine so wichtige Wahl unter diesem Druck treffen? Verzweifelt sah Ayda sich um. Sie fühlte sich, als würde alle Kraft aus ihr weichen. Ihre Knie wurden weich, und sie hatte Angst, zu fallen. Das Blau von Landos Augen zog sie förmlich in ihren Bann und gab ihr die Kraft, aufrecht stehen zu bleiben.
„Bist du sicher?“, flüsterte sie kaum hörbar. Er nickte sofort.
„Du weißt, was passieren kann …“, setzte Ayda noch einmal an, wurde aber von Rubion unterbrochen.
„Ayda! Warum zögerst du? Unter diesen Dreien bin ich die beste Wahl. Das weißt du genau“, seine Stimme klang ungehalten und gekränkt.
Ayda löste ihren Blick von Landos und wandte sich Rubion zu. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie ihn ansah. Sie hörte Bale hinter sich und meinte das Wort „Mutter“ zu verstehen, doch sie drehte sich nicht nach ihrem Sohn um. Diese Entscheidung musste sie alleine treffen, und Rubion kam überhaupt nicht in Frage. Sie musste ihre Absage jetzt nur so formulieren, dass er nicht beleidigt war.
„Rubion“, begann sie und der Versuch, ihre Stimme ruhig zu halten, gelang ihr zu ihrem eigenen Erstaunen.
„Es ehrt mich, dass du mir dieses Angebot machst. Doch du weißt, dass ich für dich nicht standesgemäß bin. Deshalb lehne ich ab. Es tut mir leid. Ich will dir mit den Kindern nicht zur Last fallen.“
Schnell und bereits ein wenig erleichtert wandte Ayda sich dem nächsten Mann zu, und ließ Rubion mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht einfach stehen.
Kahn sah ihr gutmütig entgegen. Noch einmal erwog sie die Möglichkeit, ihn zu erwählen, doch ihr Herz konnte sich nicht dazu durchringen, auch wenn ihr Verstand ihr dazu riet. Er war fremd, aber vielleicht war das gerade gut?
„Auch euer Angebot ehrt mich, und ich danke euch sehr“, sagte Ayda zu dem großen Mann, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte sie geradeaus auf seinen mächtigen Brustkorb. Sie sagte nicht direkt nein, aber es war jedem klar, dass sie ihm absagte.
Nun drehte sie sich schnell zum Letzten in der Runde: „Ich nehme dein Angebot an, Lando. Du bist mir am vertrautesten und ich bin sicher, dass du ehrliche Absichten hast. Du weißt, wie sehr ich Jaron liebe, denn du liebst ihn selbst, wie man einen Bruder liebt. Deshalb möchte ich, dass du als Ernährer für mich und die Kinder sorgst.“
Lando ahnte, wie schwer Ayda diese Wahl fiel. Er nahm ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. Ayda fühlte sich ein wenig besser, jetzt wo sie sich entschieden hatte. Sie traten zusammen vor Dimetrios, um sein Urteil zu hören. Rubions Blick sprach Bände, als er dem Paar hasserfüllt nachstarrte. Doch noch gab er sich nicht geschlagen. Mit großen Schritten trat er vor den Ratsältesten: „Ich verlange, dass Ihr als oberster Ratsherr die Entscheidung trefft“, forderte er mit fester Stimme.
„Ayda ist dazu momentan nicht in der Lage. Die Verkündung kam zu plötzlich. Ich bin sicher, wenn sie mehr Zeit hat nachzudenken wird ihre Wahl anders ausfallen.“
Lando hielt Aydas Hand ganz fest. Er spürte, wie sie zitterte. Es war noch nicht überstanden. Dimetrios sah ihn nun direkt an.
„Was sagst du dazu?“
Landos Stimme war ganz ruhig, als er entgegnete: „Das Gesetz ist eindeutig. Ayda hat sich entschieden. Ich kann sie und ihre Kinder ernähren und werde es mit Freude tun. Ich weiß nicht, was es daran zu zweifeln gibt.“
Auf dem Platz war es vollkommen still. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Wartenden, denn sogar der Wind hielt den Atem an. Alle Leute warteten gespannt auf Rubions Reaktion, und diese kam prompt. Er war kein Mann, der lange über seine Worte nachdachte.
„Wie will der Krüppel denn eine Frau und zwei Kinder ernähren?“, fragte er gehässig. Ayda hörte, wie Lando scharf die Luft einsog. Sie wollte nicht, dass er auf diese Provokation einging, deshalb drückte nun sie seine Hand ganz fest und sagte schnell: „Dimetrios, ich bin nicht froh darüber, mir einen neuen Ernährer suchen zu müssen, aber meine Wahl ist gefallen. Ich will Lando.“
Der Ratsherr verkniff mürrisch den Mund, nickte aber. Er starrte eine Weile nachdenklich auf die Menschenmenge herab. Mit einem letzten Blick auf Rubion schwenkte er dann endlich die Fahne von Endora, um anzuzeigen, dass das Urteil gefällt war.
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