Nachdenklich sah Heinrich ihm nach, als er auf sein Motorrad stieg und dann in der Ferne immer kleiner wurde.
Beim Psychologen:
“Nun Herr Berg. Jetzt sagen sie mir doch mal, was sie eigentlich schon im Offnen Vollzug zu suchen haben“, dabei schaute ihn Herr Nattar, der Anstaltspsychologe, forschend an. “Herr Nattar!“, entgrollte es Heinrich zusammen mit einem aggressiven Blick. Ärgerlich, dass er sich gleich am Anfang hatte aus der Reserve locken lassen, zwang er sich schnell wieder in sein Lieb-Jungen-Kostüm. Ruhig und nett fuhr er fort: „Ich denke es ist völlig normal, dass ich mich als Erstinhaftierter 10 Monate vor 2/3 im Offnen Vollzug befinde. Zudem ich mir in den drei Jahren Vollzug nichts habe zuschulden kommen lassen.“ „Und genau das ist für einen Menschen mit ihrer Vergangenheit nicht normal.“ „Ach so, das erinnert mich an die Frage ob ich als Kind Fliegen die Flügel ausgerissen habe. Sage ich ja, so bin ich ein chronischer Gewalttäter. Sage ich Nein, so bin ich unaufrichtig und daher besonders gefährlich. Da kann ich doch nur drüber lachen.“ Bitterkeit stieg in ihm hoch.
„Sagen Sie mir lieber, warum dieses System es nicht geschafft hat, mir in den drei Jahren Vollzug eine Ausbildung zu bewilligen, um die ich immer wieder gebettelt habe? Mit Gewalt hat man mich damals vom Auswahlknast nach Werl verlegt. Und das, obwohl ich schon alles geregelt hatte bezüglich einer Elektrikerausbildung in der JVA Geldern. Da ich auf die Warteliste gekommen wäre, hatte ich als Alternative ein Fernstudium mit der Fernuni Hagen abgesprochen. Alle Fachdienste hatten meine Bemühungen befürwortet. Bis dann ihre werte Kollegin nach einem fünfminütigen Gespräch erkannte, dass ich die volle Härte des Vollzuges benötige und daher nach Werl muss. Damit war 3 Jahre Wäscheklammern stecken angesagt. In der JVA Werl ging dann das Spielchen erst richtig los. Ständig hielt man mir eine Mohrrübe vor die Nase um mich bei Laune zu halten. Und wenn es dann soweit war, wurde ich halt kurz vorher in ein anderes Haus verlegt, wo man mich ja dann erst mal wieder kennen lernen musste. Dabei sind drei Ausbildungen, die ich von mir aus angeleiert hatte platt gegangen. Und ihr letzter Berufskollege aus Werl, Herr Solito hat mich auch erst positiv geschrieben, nachdem ich ihn fragte, ob er denn kein Rückrat besäße weil er sich an dem Gutachten aus Hagen klammern würde. Und dann hat er mich trotzdem verarscht. Nach seinem Okay wurden die Formalismen sechs Monate in die Länge gezogen. Zwei Telefonate a´ fünf Minuten hätten es auch getan. Und nun geht’s hier weiter mit der Verarsche. — Nein, ich denke nicht dass ich zu früh im Offnen bin.“ Heinrich war es nun egal. Diesem Lackaffen musste er einfach die Meinung sagen. Wie der schon aussah mit seinem papageiähnlichen Anzug. Und so ein Gestörter sollte mal wieder über ihn entscheiden. „Herr Berg, nun spielen sie mal nicht den Entrüsteten. Ich mache diesen Job nicht erst seit gestern. Und sie wissen genauso gut wie ich, dass die einzige Ausbildung die sie interessiert 9mm heißt. Und auf St. Pauli wird sie auch niemand nach einem Gesellenbrief fragen. Denn genau dort wird es sie hinziehen.“ Das hatte gesessen. Es traf Heinrich voll in seiner Wunde. Ja, er hatte damals geschossen. Doch es war ein Unfall. Was musste dieser Bankangestellte auch den Helden spielen? Wie konnte der das Leben seiner Kollegin für so ein paar Fetzen Papier aufs Spiel setzen, als er ihm unerwartet in die Waffe griff. Wie oft hatte er sich die Frage gestellt, was hätte passieren können, wenn sein Reflex stärker als seine Beherrschung gewesen wäre. Fast wäre er dadurch zum Mörder geworden. Denn anders hätte man es nicht beurteilt. Dafür kannte er zuviel ähnliche Fälle, wo der Reflex und die Angst größer waren. Von daher Gewalt? - Nein, nie wieder. Das hatte er sich geschworen. Und die Sache mit der Stripptänzerin? Diese Normalos, genauso wie dieser Rentner-Richter vom Dorf hatten doch keine Ahnung von solchen Bräuten. Ein Spaß war es. Die Alte stand doch auf diese Handschellennummer. Und wäre ihr Macker nicht aufgetaucht, so hätte es auch nie Probleme gegeben. Nach Ablauf seiner Gedankenkette erwiderte Heinrich: „Herr Nattar! Ich kann dazu nur sagen, dass sie sich völlig irren. Der Gewalt habe ich total abgesagt. Und zudem will ich nur noch ein ordentliches und normales Leben führen.“ „Ja ja, das sagen sie alle. Und doch kommen 85 % wieder. Und bei ihnen habe ich ein ganz besonders schlechtes Gefühl. Also Lockerungen können sie erst mal vergessen. Wie sie selbst bemerkten, ist das Gutachten vom Kollegen Solito schon wieder 6 Monate alt. Ich halte es daher für angebracht noch ein paar Gespräche mit ihnen zu führen um ein neues Gutachten erstellen zu können.“ „Nein, das können sie doch nicht bringen. Meine Familie rechnet mit Urlaub. Das darf doch wohl nicht wahr sein.“
„Herr Berg, ich habe mich bereits entschieden. Auf Wiedersehen, sie bekommen Bescheid.“ „Und was ist wenn dieses erneute Gutachten negativ ausfällt?“ „Dann gibt’s möglicherweise eine Rückfahrkarte nach Werl.“ „Aber...“ „Nix aber, auf Wiedersehen habe ich gesagt.“
Fluchtvorbereitungen
„Aaaach Matthias, ist das geil! Das Duschen war und ist für mich immer das Schönste am Tag. Einfach Mensch sein. Und nun bei diesem Scheiß-Stink-Job erst recht. Erst musste ich den ganzen Tag Schlacke auf irgendwelche Förderbänder schippen. Und nun, nachdem ich mich wegen meiner empfindlichen Haut beschwert habe, stecken die Säcke mich in die Müllstraße. Was meinst du, was da Bakterien durch die Luft fliegen. Schau Dir bloß meine Fresse an. Durch diesen Ekel bekomme ich Ausschlag und Pickel. Habe sowieso Probleme damit.“ „Meinst du etwa mein Job ist besser? Den ganzen Tag diese schweren Gussteile schleppen und von a nach b packen. Die Knochenmaloche müssen natürlich die Knackis machen. Für die normalen Arbeiter sind wir doch nur Gesindel.“ „Das tut dir dünnem Hering ganz gut. Andere gehen ins Kraftstudio um zu trainieren und müssen dafür noch bezahlen. Du hast das alles umsonst und bekommst sogar noch einen fetten Lohn dafür. Ist das denn gar nichts?“ „Wenn mein Kreuz von dieser Scheißmaloche nicht so weh tun würde, könnte ich da glatt drüber lachen. Und was die Kohle betrifft, so ist das doch auch wohl nur ein schlechter Scherz. Du hast ja wenigstens vollen Einkauf. Aber bei mir geht noch ein Drittel aufs Überbrückungsgeld. Und die verbleibenden 120 Kröten reichen hinten und vorne nicht.“ „Ja, das ist wirklich ein Witz“, kommentierte Heinrich. „ Hier verdiene ich die Hälfte wie im geschlossenen Vollzug, benötige aber das Doppelte. Als wenn die es drauf anlegen, dass man schon von hier aus wieder krumme Geschäfte macht. Ich weiß sowieso nicht, wie das noch gehen soll, wenn ich erst mal gelockert bin und auch noch Geld für Ausgänge, geschweige denn für Urlaub benötige. Na ja, irgendwie werde ich das schon gebacken bekommen. Muss sehen, dass ich mir irgendwo eine Adresse besorge, wo ich mir ein paar Klamotten drauf bestelle. Hat mir in Werl jemand von erzählt. Wäre wohl kein Problem bei diesen Versandhäusern an einen Warendispositionskredit zu kommen.“ „Sag bloß du bist noh sauber was Versandhäuser betrifft. Ich habe damals ohne Ende bestellt. Mein Name ist im Eimer. Mir schickt keiner mehr was. Aber ’ne Adresse habe ich für dich. Ich habe doch immer noch meine Wohnung in Dortmund.“ „Schaffst Du es, dass jemand von hier aus meinen Namen an deinen Briefkasten klebt? In der Nähe von der Kantine ist eine Telefonzelle. Ich glaube zwar nicht, dass der Apparat hier im Offnen Vollzug abgehört wird, doch sicher ist sicher. Ich habe drei Versandhäuser mit Klamotten und sieben mit Münzen. Wenn der Andreas nachher zum Kraftsport geht, machen wir eine Liste mit allen Daten fertig. D.h., die benötigten Telefonnr. und Bestellnr. Da ich von der Müllstrasse schlecht weg komme, musst du das erledigen. Du rufst da jeweils an, meldest dich mit Heinrich Berg und bestellst auf die Dortmunder Adresse. Soweit ich weiß, kann man bei den Klamotten bis 1200,-DM auf Kombi bestellen. Wenn man dann die Kundennr. hat bis 3000,- DM. Interessanter sind e die Münzen. Denn die kann man direkt gegen Bargeld umtauschen. Bei den Münzen machen wir es über Kleinteile bestellen und dann mit der Kundennr. richtig absahnen. Wenn dich jemand beim telefonieren erwischt, sagst du, dass du mit deiner Perle telefonieren wolltest. Den Zettel schluckst du runter. Sobald ich in Urlaub fahre, bezahle ich die Rechnungen für die Kleinteile. Und dann wird richtig bestellt. Nach dem Umtauschen ist genügend Geld da um etwas Vernünftiges zu machen. Wenn du dir wirklich sicher bist, Deutschland Ade zu sagen, nehme ich dich mit.“„Jetzt sag mir endlich was du vorhast.“ „Warum nicht? - okay, in groben Zügen will ich dich aufklären. Und zwar will ich die Post abziehen. Dafür benötige ich lediglich einen falschen Ausweis und einen Stempel, den ich im Ausland anfertigen lassen muss. Es geht dabei um Sparbücher die ich eröffne und dann in ganz Europa einlösen werde. Natürlich muss ich diese vorher noch ein wenig manipulieren. Doch das ist ein Kinderspiel. Ein Mindestkapital von 5000,- DM benötige ich aber auf jeden Fall dafür. Da ich mehrere Möglichkeiten habe, um an die benötigten Utensilien zu kommen, klappt die Aktion auf jeden Fall. Wichtig ist nur das Startkapital von 5000 DM. Sobald ich das auf 100% sicher habe, bin ich hier weg. Und damit meine ich, wenn es in meiner Hosentasche ist. So kurz vorm Ziel gehe ich kein Risiko mehr ein. Thailand, das Land des Lächelns wartet auf mich. Vorher will ich aber noch einen Abstecher über Nigeria machen um jemand zu besuchen.“ „Ja, lass uns das klar machen. Ich komme mit wohin du willst. Laß uns gleich morgen abhauen. Die 5000 DM sind absolut kein Problem. Die besorge ich schon. Du hast doch gesagt, Eurocheques sind wie Bargeld für dich. 10, 20 Stück kann ich sofort besorgen. Und dann warten wir draußen, bis die Klamotten und die Goldmünzen der Versandhäuser da sind.“ „Mensch Matthias, wie oft eigentlich noch? Wir warten, bis alles l00%ig ist. Und überleg dir das bitte noch mal in Ruhe. Bei deinen paar Monaten lohnt sich die Flucht doch gar nicht. Und außerdem wartet noch deine große Liebe auf dich. 11 Jahre Beziehung steckt man nicht mal eben so weg.“ „Diese Schlampe ist mir scheißegal. Noch nicht mal die paar Monate konnte sie mir treu bleiben. Das hat sich erledigt für mich. In Thailand werde ich schon einen Ausgleich finden. Oder was meinst du?“ „Ja, da bin ich mir sogar sicher. Dein Mädel wirst du dort ruckzuck vergessen. Diese Thai-Bräute sind wirklich Wahnsinn. Ich werde mir eine aus dem Massagesalon besorgen. Da stehe ich drauf. Aber wie gesagt, lass uns nichts überstürzen. Mach das erst mal mit den Bestellungen und dem Briefkasten klar. Es läuft uns nichts weg.“
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