„Was ist los, Marie?“ Andrea war stehen geblieben und drehte sich zu ihr um. „Hast du was gefunden?“
„Nein nein, schon gut“, murmelte Marie und steckte das Papier in ihre Manteltasche.
„Dann bitte nicht weiter bummeln“, rief Barbara, „sonst breche ich hier auf offener Straße zusammen!“
„Garner.“
Eine Männerstimme.
„Hallo, mein Name ist Caitlin Smith. Ich würde gerne Melissa sprechen. Ist sie da?“
Während sie wartete, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Rascheln, eine leise Stimme, dann nahm jemand den Hörer auf.
„Ja?“
„Melissa? Hier ist Caitlin.“
Keine Antwort.
„Caitlin Smith.“
Wieder Stille. Dann etwas, was wie ein tiefes tiefes Seufzen klang.
„Hallo Caitlin. Wie schön von dir zu hören! Du hast also meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört!“ Melissa klang heiser. „Erinnerst du dich noch an meine Oma?“
Caitlin erinnerte sich. Oma Betty. Na klar!
„Ja, natürlich! Wie geht es ihr?“
Ein kurzes Zögern in der Leitung, dann:
„Sie ist vorgestern gestorben.“
„Was?“
„Oma ist am Donnerstagabend gestorben. Sie war sehr krank, die Nieren...“
Caitlin merkte zu ihrer Überraschung, dass ihr die Tränen kamen. So lange her und doch erschütterte sie diese Nachricht. Mühsam riss sie sich zusammen.
„Melissa-.“
Ihre Stimme verlor sich. Beide schienen in alten Erinnerungen zu schweben. Oma Betty. Natürlich nicht wirklich ihre Oma, aber sie hatten sie immer so genannt. Caitlin und Malou hatten viel Zeit bei Betty verbracht. Manchmal hatte die alte Frau im Scherz behauptet, sie habe insgesamt drei Enkelinnen.
Ehe Caitlin sich versah, war sie fertig mit dem Studium gewesen, hatte zwei Jahre im Ausland gelebt. Zurück in Deutschland hatte sie schon bald die Agentur übernommen, geheiratet. Andere Freunde waren in ihr Leben getreten, manche gingen wieder, einige blieben. Und auf einmal war Oma Betty gestorben!
„Lin, ich dachte mir, es sei vielleicht schön, wenn wir drei uns wiedersehen... Meine Oma“, Melissas Stimme klang nun etwas kräftiger, „meine Oma hat nach euch gefragt und ich konnte nichts über euch erzählen! Das fand ich furchtbar. Deshalb habe ich ihren Tod als Anlass genommen…“
„Ach Lissa“, flüsterte Caitlin, „du Gute.“
„Naja, jedenfalls hatte ich die Idee, dich und Malou zu uns einzuladen. Vielleicht in der letzten Januarwoche für ein verlängertes Wochenende? Würdest du kommen?“
„Ja… ja, selbstverständlich!“
Sie besprachen noch ein paar Details, dann legten sie auf.
„Caitlin? Bist du noch am Telefon?“, rief Michael aus dem Wohnzimmer.
„Nein“, krächzte sie.
Dann kamen die Tränen.
Eine Jugenderinnerung:
„ Aber dass ihr nichts verratet!“, zischte Lissa.
Ihre Freundinnen schüttelten entschieden den Kopf.
„ Wir doch nicht!“, flüsterte Malou.
„ Wann soll es denn losgehen?“
„ Um siebzehn Uhr werden die ersten Gäste kommen. Bis dahin müssen wir alles vorbereitet haben!“
Oma Betty steckte den Kopf herein.
„ Was habt ihr denn da zu flüstern?“
Sie machten ein unschuldiges Gesicht. Lin grinste. Die Überraschungsfeier für Betty würde super werden!
Michael blickte vom Fernseher auf, als Caitlin hereinkam. Sie ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen und streckte alle Viere von sich.
„Und? Wie war das Gespräch?“, fragte er neugierig.
„Melissas Oma ist vor einer Woche gestorben! Ich hatte Betty unheimlich gern! Ich musste eben echt weinen. Wie schön von ihr zu hören! Ich bin ganz durcheinander. Aber es tat gut, Melissas Stimme zu hören.“
Er zog fragend sie Augenbrauen hoch.
„Stell dir vor, Lissa wohnt wieder in unserer Heimatstadt! Dieses verschlafene kleine Nest, in dem wir aufgewachsen sind.“ Caitlin setzte sich auf, nun ganz lebhaft. „Sie hat geheiratet und ist mit ihrem Mann vor einigen Jahren wieder dorthin gezogen. Ich meine…“
Sie verstummte und schaute ihren Mann mit großen Augen an. Im Fernsehen begannen die Abendnachrichten. Michael machte den Ton noch etwas leiser.
„Es ist alles ganz merkwürdig“, sagte Caitlin versonnen, „alles ganz merkwürdig.“
Melissa konnte nicht schlafen. Neben ihr schnarchte Robert ungerührt. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Ihr ganzer Körper schien unter Spannung zu stehen, die Muskeln zogen, alles zwickte, sie konnte kaum ruhig liegen. Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Leise stand sie auf, schlüpfte in Hausmantel und warme Socken und schlich aus dem Zimmer.
Sie holte die Milch aus dem Kühlschrank. Eine warme Milch mit Honig würde sie hoffentlich beruhigen.
Noch immer kam ihr das Telefonat unwirklich vor. Wie aus einem Traum. Caitlins Stimme, leise, aber bestimmt. Trotz all der Jahre in Deutschland dieser leichte britische Akzent. Keiner sprach Melissa so zärtlich aus, wie Caitlin es tat.
Vorsichtig schüttete sie die Milch in die Tasse und rührte etwas Honig unter, stellte die Tasse in die Mikrowelle. Dann ging sie damit ins dunkle Wohnzimmer. Durch das Fenster schien der Mond, das erste Mal seit langem wieder sichtbar.
Wie gut es getan hatte, mit Lin zu telefonieren. Leider hatte sie Malou noch nicht erreichen können. Es wäre zu schade, wenn sie nicht kommen könnte.
Die ersten Schlucke wärmten Melissa von innen. Bedächtig trank sie ihre Tasse aus und hing ihren Gedanken nach.
Nach dem Telefonat waren sie gleich aufgebrochen und zu Roberts Schwester gefahren. Es war ein überaus langweiliger Abend geworden. Einzig die Tatsache, dass sie ein wenig Zeit mit Robert verbringen konnte, abseits des Alltags, hatte sie aufgemuntert. In einer ruhigen Minute, als sie beide im Wintergarten standen und ein Glas Sekt tranken, hatte Melissa den Telefonanruf ihrer Kindheitsfreundin angesprochen.
„Bei uns?“
„Es wäre ja nur von Freitag bis Sonntag.“
Robert kratzte sich am Kopf und schaute sie zweifelnd an.
„Hältst du das denn für so eine gute Idee? Schließlich habt ihr euch seit eurer Studienzeit nicht mehr gesehen! Ich kann mir kaum vorstellen, dass es so einfach wird, nach all der Zeit wieder daran anzuknüpfen.“
Eigentlich gab Melissa ihrem Mann ja Recht. Sicher, es würde eine Herausforderung werden. Doch andererseits konnte sie schlecht ihre ehemals beste Freundin einladen und dann im Hotel übernachten lassen. So sagte sie es Robert auch. Er zuckte schließlich die Schultern.
„Das musst du wissen. Ich habe jetzt im Januar eh viel zu tun im Geschäft, dann habt ihr eure Ruhe. Und ein Gästezimmer haben wir ja, da kann sie sich einrichten.“
Melissa zuckte zusammen. Das Gästezimmer. Das eigentlich, ursprünglich, als Kinderzimmer gedacht gewesen war. Möglichst neutral antwortete sie:
„Alles klar, dann rufe ich Caitlin direkt an und frage sie.“
Aissa war dazu gekommen. Wie immer ein Traum aller Männer, betörend duftend und in ein dunkelrotes Cocktailkleid gehüllt.
„Naa, ihr zwei Hübschen! Ich hoffe, ihr amüsiert euch gut?“
Hinter Aissa tauchte ihr Mann auf. Melissa konnte Jürgen nicht leiden. Als er ihr charmant ein weiteres Glas zu trinken brachte, lächelte sie gequält und stellte sich etwas dichter neben Robert. Jürgen nutzte jede Gelegenheit, um sie zu begrabschen. Er machte dies jedoch immer so beiläufig und unauffällig, dass sie sich schon im nächsten Augenblick nicht mehr ganz sicher war. Einmal hatte Melissa versucht, ihrem Mann davon zu erzählen. Doch dieser hatte nur abgewinkt, sie bilde sich das sicherlich ein, warum solle Jürgen so etwas tun.
Ja genau, es ist ja auch unvorstellbar, dass ich mal etwas richtig einschätze , dachte sie bitter.
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