Franziska C. Dahmen
Taubenjahre
Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.
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Inhaltsverzeichnis
Titel Franziska C. Dahmen Taubenjahre Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf. Dieses ebook wurde erstellt bei
Januar 1944
Mai 1930
Ein Terrier in Uniform
Markttag
Auf dem Revier
Geschäfte
Im Lager
Musik und zwei Geschichten
Überfall
Entscheidung
Zu Hause
Flucht
Neuanfang
Böses Erwachen
Neue Erfahrungen
Die Lüge
Hochzeit mit Hindernissen
Die richtigen Kreise
Dunkle Wolken
Ein schwerer Gang
Eine Apostelgeschichte der anderen Art
Therese
Im Taubenhaus
Hürden
Maßarbeit
Geplatzte Träume
Staatliche Gewalt eines Bartstumpenträgers
Gefunden
Flucht
Leben
Gefangene
Oktober 1942
Alltag
Trutzburgen aus Glas
Igeljagd
Ein weiterer Versuch
Falsche Papiere
Absturz vom Seil
Gossler
Verhör
Bürokratie
Umbruch
Ungebetener Besuch
Flucht
Die kleine Freiheit
Im Sammellager
Im Waggon
Ankunft
Empfang
5984
Kellerdasein
Neue Ufer
Das Einatmen von Mule
Auf dem Bauernhof
Heimaturlaub
Apotheose des Todes
Preis der Freiheit
Zusammenkunft
In der Krankenbaracke
Entscheidung
Alte Feinde
Hoffnung
Der Teufel in Aktion
Spesmea
Noma
Gestohlene Momente des Glücks
Gabriel
Himbeerbonbons
Sofia
Folgenreiches Treffen
Eigene Welt
Ungezügelter Hass
Fliegeralarm
Im Bunker
Letzte Reise
Rache
Misslungene Pläne
Vollendung
Nachwort
Endnotenverzeichnis
Impressum neobooks
»Thai mukhleom len othé kai avileom
Thai mothodeom tumaré raimaske.
Bachta tel del o Del!«
»Und dort habe ich sie zurückgelassen,
woher ich gekommen bin,
um euch dies zu erzählen. Gebe Gott Glück!« 1
(Aichele/Block; S.354)
Die ersten Schneeflocken rieselten vom nachtschwarzen Himmel herab und streichelten beiläufig sein ausgemergeltes, pergamentenes Gesicht. Als eine sich im dichten Gespinst seiner langen schwarzen Wimpern verfing, musste er unwillkürlich an Hanna denken und ein leichtes Lächeln durchbrach die schmerzhafte Starre seiner taub gewordenen Lippen.
»Es ist einfach unfair! Wie kann ein Mann nur solche Wimpern besitzen?! Und wenn du einen dann auch noch so anschaust, dann ..., dann …, ach, du weist schon, was ich meine ...«, hatte sie anfangs einmal zu ihm gesagt und ihn dabei derart verlegen angelächelt, dass er nicht anders konnte, als sie damit aufzuziehen.
»Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst …«
»Oh, du ...! Wer’s glaubt, wird selig!«
»Mhm, … lass mich überlegen, … meinst du etwa das hier?« Lachend hatte er sie in die Arme genommen und geküsst und um sich herum die Welt vergessen, wie er stets alles vergaß, wenn er mit ihr zusammen war.
Rafael schloss die Augen und sog tief die eiskalte Luft in seine Bronchien hinein, während zugleich das Bild einer jungen, schlanken Frau vor seinem inneren Auge erschien, deren weizenblondes Haar in der Sonne golden glänzte. Schon meinte er förmlich ihren fein-würzigen Körpergeruch in der Nase zu verspüren, aber tief in seinem Innersten wusste er, dass er nur träumte. Er träumte einen schönen Traum. Einen Traum von Liebe, der in seinem realen Leben selten unter einem guten Stern gestanden hatte. Und trotzdem, oder sollte er sagen gerade deswegen, genoss er ihn!
Zufrieden öffnete er für einen kurzen Moment die Augen und blinzelte, sodass die mittlerweile um ein Vielfaches angewachsene Schneeflocke langsam ins Wanken geriet und auf seine Wange herabrollte, wo sie unbemerkt liegenblieb.
Rafael zitterte; ob letztlich vor Kälte, Angst oder Schmerz, er wusste es nicht! Einzig dass das Atmen ihm zunehmend immer schwerer fiel, stellte sich für ihn als eine unumstößliche Gewissheit dar. Die eiskalte Nachtluft drang kaum noch bis in die tiefsten Tiefen seiner Lungen vor. Wie auch?!, dachte er verbittert. Immerhin lastete das Gewicht Balos wie Blei auf seiner Brust und presste ihn gegen etwas unbestimmt Weiches, das sich schräg in seinen Rücken bohrte.
Auf wem er wohl lag? Auf Stappo? Auf Nuri? Oder war es Baku, der sich da so rücksichtslos in seinen Rücken bohrte?
Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, aber ihm wollte beim besten Willen nicht mehr einfallen, wen sie zuerst erschossen hatten. Die Gesichter seiner Freunde und Bekannten waren so schattenhaft, so grau, so konturlos, so leer.
»Links neben mir hat Baku gestanden.«, murmelte er kaum hörbar. »Neben ihm befand sich Kalios. Aber wer zum Teufel hat auf der rechten Seite gestanden? … Verdammt! Ich kann mich nicht erinnern! … Es könnte Stappo gewesen sein. Obwohl Nuri …? Nein, doch nicht. Der stand ganz woanders. Dann wohl eher Josef. Der Kerl war schon immer ein brutaler Draufgänger. Zuzutrauen wäre es ihm.«
Auf jeden Fall musste es einer von den Dreien gewesen sein. Er war sich in dieser Hinsicht sicher. Nur wer genau? Wer bohrte sich da so rücksichtslos in seinen Rücken? – Wider eigenem Willen stahl sich ein Lächeln auf seine blau angelaufenen Lippen. Seine Welt war im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt geworden: Eine zum Rücken mutierte Gerade, die sich dank eines einzigen Schusses ihrer Vertikalität beraubt sieht und in der Horizontalen unversehens von einer rücksichtslosen Schräge bedrängt wird. Aufstand der Geometrie! Krieg der Körperteile! Leib gegen Leib. Bein gegen Rücken. Rücken gegen Arm. Kopf gegen … nein, an die Köpfe konnte er sich nicht mehr erinnern! Die waren konturlos, hatten sich längst zu Schatten ihrer selbst aufgelöst und blieben deformierte Kreise, deren Name für immer in der Versenkung verschwunden war.
Rafael schnaubte unwillig auf, um im gleichen Moment in einem Anflug von Galgenhumor kurz aufzulachen. Zumindest einem einzigen Kopf würde er konkret einen Namen geben können und damit aus seiner schattenhaften Existenz erlösen. – Ein jämmerlicher Erfolg, gewiss, aber immerhin ein Erfolg! Und das war es, worauf es ankam! Zumindest hier und jetzt.
Der bläulich-schwarz schimmernde Schädel, der sich mit seiner pausbäckigen Rundheit so unangenehm in seine Brust bohrte, war Balos’. Obwohl als pausbäckig konnte man sein Gesicht nicht mehr bezeichnen! Das war es einmal vor langer, langer Zeit gewesen. Genauer gesagt, bevor sich die Tore von Auschwitz hinter ihm geschlossen hatten. Jetzt war es nur rund und hohlwangig. Die Pausbäckigkeit hatten sie ihm ausgeschwitzt. Geradeso wie bei ihm. Doch das war nicht wichtig. Auf die Pausbäckigkeit konnte er verzichten. Auf die Wärme, die sein toter Körper ausstrahlte, nicht. Doch wie lange würde Balo ihn noch wärmen können? Wie lange mochte es dauern, bis der Körper eines Menschen gänzlich ausgekühlt war? Vielleicht eine Stunde oder bestenfalls zwei; vielleicht aber auch nur noch wenige Minuten? – Er wusste es nicht, wie so vieles in letzter Zeit.
Ein heiseres Krächzen, das eigentlich ein Lachen sein sollte, entrang sich seiner Brust. Dann kehrte wieder Stille ein. Nichts durchbrach sie: Weder das Säuseln des Windes, das sich weigerte das restliche Laub aufzuwirbeln, noch ein Knacken der Äste in einer der Tannen, die die Lichtung umsäumten, auf der sich das Massengrab befand.
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