»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Schon etwas her.«
»Noch was?«
Mael schüttelte den Kopf. »Was ist mit ihr passiert?«
»Wir suchen sie. Mehr kann ich nicht sagen.«
*
So beschissen muss sich Demenz anfühlen, dachte Mael und stocherte mittags mit einem Pommes in der Majonäse. Dieses immer Suchende, ohne zu wissen, ob man das, was man vermisst, nicht womöglich schon vor sich hat. Ich könnte jetzt direkt vor meiner Wohnung stehen und würde sie wahrscheinlich nicht erkennen.
Er war nicht hungrig, dafür herrschte in seinem Kopf zu großes Chaos. Aber das hörbare Knurren des Bauches ließ ihm keine andere Wahl, als seinen Magen zu beschäftigen.
»Haben Sie ein Bier für mich?«
Eine überflüssige Frage – in jeder Pommesbude gab es Alkohol.
Es muss doch rauszukriegen sein, wie ich heiße, oder zumindest wo ich wohne, regte er sich auf, nachdem er kurz zuvor seine Taschen entleert hatte und kein Stück schlauer geworden war.
Für die anderen Anwesenden mochte er sonderbar wirken, das konnte auch die Bestellung des Bieres nicht heilen. Die, die in diesem Stehimbiss den Umsatz brachten, hatten selbst an den Vormittagen Zeit und in der Regel ein rotfleckiges Gesicht.
Mael wirkte fehl am Platz, doch er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie weit er sich über die bemitleidenswerten Gestalten dieses Ortes stellen durfte. Wer sagte ihm, dass er etwas Besseres war.
.
Der Morgen hatte mit Mael gewartet.
Er wusste, dass Marie immer am Wochenende vor zehn Uhr zum Schiller neben dem Theater fahren würde - nicht nur wegen der Croissants, sondern auch, um auf dem Rückweg das Rad zu schieben und dabei einen Latte macchiato to go zu schlürfen. Ein Ritual, welches nur Regen ausfallen lassen konnte.
An diesem Tag regnete es nicht.
Wie erwartet, kam Marie, kaufte, wartete kurz auf das Bestellte und verließ das Geschäft mit einem Lächeln. Glattes Haar fiel an ihr herab und passte zur Leichtigkeit ihrer Erscheinung.
Es bedurfte nur etwas Dreistigkeit, um sie anzusprechen, als sie das Schloss von ihrem Rad löste.
»Ich bin vermutlich nicht der Richtige für dich. Ganz sicher sogar. Aber es gab in den letzten Tagen einfach zu viele Momente, an denen ich dich hier sah und mich ärgerte, dich nicht angesprochen zu haben.«
Eine Verlegenheit irritierte sie kurz, bevor sie sich geschmeichelt fühlte.
Mael ahnte noch, dass er sich wünschte, Marie einen Tag später zu küssen. Dann brach sein Bild zusammen.
Kapitel 2
»Alter!« Er presste die Handflächen gegen die Stirn und versuchte das Pochen einzudämmen, das ihn in den Wahnsinn treiben wollte.
»Geht's dir gut, Junge?« Eine der versoffenen Gestalten legte den Arm um ihn.
»Fass mich nicht an!«, fauchte er ihm entgegen.
Mael machte sich los und drängte aus dem Imbiss. Ihm war schwindlig. Er hielt sich an einer Hauswand fest und kniff die Augen zusammen, damit das Drehen um ihn herum aufhörte. Doch ohne Sicht wurde es nur schlimmer. Er taste sich langsam um die Hausecke, hinein in eine Seitenstraße. Keine grell beleuchteten Schaufenster, keine Lichtkegel von vorbei rauschenden Fahrzeugen.
Einige Minuten und es wurde besser.
Was war der Auslöser dafür, dass sein Gehirn plötzlich etwas vom Vortag freigab? Der Alkohol?
Nur zweihundert Meter stadteinwärts lagen die Bäckerei Schiller und das Theater. In der anderen Richtung sah er am Ende der Seitenstraße das Eckhaus der Theresienstraße, zwei Hausnummern weiter wohnt Marie.
Er musste dorthin zurück.
*
Mael stellte sich in die Theresienstraße und wartete darauf, dass etwas passierte: ein bekannter Gedanke, eine Erinnerung, irgendetwas.
Die Polizisten waren abgezogen. Vor ihm lag Kopfsteinpflaster aus den dreißiger Jahren. Rechts und links davon ehrwürdige Pappelreihen. Daneben uralte Gehwegplatten aus Granit, die durch die Baumwurzeln an vielen Stellen nach oben gedrückt worden waren.
Er erinnerte sich nicht.
Einige Gebäude kannte er zwar von der Fassade her, selbst das umgefahrene Parkverbotsschild kam ihm nicht neu vor. Aber das war es auch schon. Mael hätte in jeder beliebigen Straße stehen können. Auf diese Art kam er keinen Schritt weiter.
Doch woher wusste er dann, dass Marie in dem grauen WG-Haus wohnte? Beinahe unbemerkt hatte sein Hirn ein Detail hinzugefügt.
Kein Mensch hatte mir etwas von einer WG gesagt!
Mael marschierte über den Gehweg und versuchte, sich zum Erinnern zu zwingen.
»Ich war eben bei einer Pommesbude. Gut.«
»Davor hatte ich mit einem Polizisten gesprochen, der hat mir ein Bild von Marie gezeigt. Soviel weiß ich also noch.«
»Davor kam ich vom Fluss und hab da wohl oder übel die Nacht verbracht.«
»Und davor …«
»Davor? …«
»Da bin ich …« Mael fuchtelte mit den Händen wütend in der Gegend herum.
»Ach Scheiße, ich weiß es nicht!«
Zielstrebig änderte er die Richtung und lief auf einen Passanten zu, der ihm entgegen kam.
»Kennen Sie mich?«
Der Mann ging irritiert weiter und Mael wurde ungehalten.
»He, ich hab dich was gefragt!«
Keine Reaktion.
»Bist du zu blöd, mir eine einfache Frage zu beantworten?!«, brüllte er dem hinterher, der nun an Tempo deutlich zugelegt hatte.
Eine Frau, die durch die Straße wollte, hörte sein Schimpfen und nahm einen anderen Weg.
Mael drehte nach links ab, stampfte zu Marias Haus und drückte sämtliche Klingeln.
Niemand betätigte den Türöffner. Er trommelte noch einmal auf die Knöpfe und schrie anschließend auf dem Hof die Hinterseite des Gebäudes zusammen. Doch es half nichts. Anscheinend gingen alle Bewohner um diese Uhrzeit geregelten Beschäftigungen nach.
Verärgert setzte er sich auf einen verwitterten Stein neben der Einfahrt und überlegte, wie es weiterginge. Während er dies tat, ließ er sich immer mehr auf das ein, was um ihn geschah. Aus der Hausnummer neun trippelte eine alte aufgetakelte Dame mit einem winzigen Yorkshire. Der Terrier kläffte alles an, was sich bewegte, selbst Blätter, die der Wind mitnahm.
Hässlich Vieh! Mael war heilfroh, dass er keine Tiere hatte. Doch je länger er darüber nachdachte, umso unsicherer wurde er.
In der Acht musste im Erdgeschoss ein Zahnarzt seine Praxis haben. Er entzifferte das Schild aus der Entfernung nur unvollständig aber die Lamellenvorhänge, das grelle Licht im Behandlungsraum und die Mienen der Menschen, die beim Hineingehen deutlich versteinerter waren, als beim Verlassen, ließen keinen anderen Schluss zu.
Craig hat Zahnärzte auch gehasst.
In Mael wurden die ferner zurückliegenden Erinnerungen etwas klarer.
Craig war älter als er gewesen – nicht mehr als zwei, drei Jahre, vom Bauchgefühl her. Während er an ihn dachte, spürte er eine solche Nähe, dass er nur sein Bruder sein konnte. Doch die Fetzen, an die er sich erinnerte, lagen alle derart lange zurück, dass ihm nichts außer Kindheitserinnerungen blieben. Mael hatte keine Ahnung, ob der Kontakt die darauffolgenden Jahre überstand. Er wusste nicht einmal, ob Craig noch lebte.
..
Schmallippig schlürfte sie den Schaum vom Kaffee.
Mael mochte es eigentlich nur, wenn sie voller waren, ihn förmlich zum Küssen aufforderten. Doch bei Marie wurde das zur Nebensache. Er sah ihr die ganze Zeit zu und befand sich kurz davor, das Gespräch zu vergessen, in das beide gefallen waren, als er sie vor der Bäckerei angesprochen hatte.
Sobald sie aufblickte, war es für ihn, wie nach einem guten Kinofilm, wenn er nach zwei Stunden Dunkelheit wieder ans Tageslicht kam und ihn alles Helle und Farbige beeindruckte. Mael hätte seinen Blick gern noch weiter an ihr herabgleiten lassen. Doch zu diesem Zeitpunkt unterließ er das – Marie sollte eine faire Chance bekommen.
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