Er war froh, dass sich seine Frau oben im Schlafzimmer hingelegt hatte. Dieser Auftritt wäre für ihre angespannten Nerven definitiv zu viel.
Kaum waren sie im Wohnzimmer angekommen, platzte es aus Yasin heraus. Er sprach dabei eine eigenartige Mischung aus Arabisch mit Englisch, die ebenfalls ein Anzeichen seines völlig verwirrten Geisteszustandes war.
Stammelnd flüsterte er heißer: „Ich habe sie gefunden – die Schweine! Wollten gerade eine neue Bombe bauen … das hab ich ihnen ausgeredet …“ er kicherte irre. „Ich habe sie alle getötet!“
Dann packte er plötzlich und mit unerwarteter Kraft den General von vorne am Hemd und zog ihn zu sich heran: „Verstehen Sie?! Ich habe sie gerächt!! Ich habe Clara gerächt!“
Jack packte seinerseits Yasins Hände und löste sie vorsichtig von seinem Hemd. Es drang langsam zu ihm durch, was das Gestammel bedeutete. Konnte das wirklich wahr sein?
Er wollte Yasin weiter befragen, doch ohne ein weiteres Wort zu sagen, sackte dieser bewusstlos in sich zusammen.
Hanif stand wie vom Donner gerührt in Rayans Zelt.
Wie hatte er sich so gehen lassen können? Er wusste wie jeder andere genau, dass es eines der schlimmsten Vergehen war, dem Scheich vor seinen Leuten zu widersprechen.
Während er in einem Vier-Augen-Gespräch vor allem Hanifs Rat immer schätze, so duldete er keinerlei Widerspruch, wenn andere dabei waren.
„Es, es tut mir leid!“, stammelte er. „Das hätte ich nicht tun sollen! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Verzeiht mir Herr, ich wollte Euch nicht bloßstellen …“ seine Stimme brach ab.
Rayan hatte noch immer nichts gesagt. Er rang um seine Fassung und wollte nicht voreilig aus einem Impuls heraus etwas sagen. Das war er Hanif schuldig. Und doch hatte er das Gefühl, als hätte dieser ihn verraten. Er kämpfte damit, seine Wut im Zaum zu halten.
Die Sekunden zogen sich dahin und erst eine ganze Weile später sagte der Scheich schließlich mit einem beißenden Unterton in der Stimme: „Die beiden müssen dich ja sehr beeindruckt haben, dass du sogar deine Loyalität für sie riskierst.“
Hanif wurde rot. Sein Ausrutscher war ihm überaus peinlich und er hätte seine Worte gerne zurückgenommen, wenn er dies gekonnt hätte. Dass sein Herr aber deswegen seine Loyalität infrage stellte, beleidigte ihn. Er hatte vor 13 Jahren einen Eid geschworen, den er bisher noch nie gebrochen hatte, nicht eine Sekunde lang. Dies nun wegen eines Ausrutschers anzuzweifeln, traf ihn tief.
„Darf ich sprechen, Herr?“, fragte er mit neutralem Ton, jedoch völlig steif.
Rayan hob die Augenbrauen: „Natürlich.“
„Ich würde Euch gerne folgenden Vorschlag machen, Herr: Bitte erweist dem Händler die Ehre, ihn zu empfangen und sich seine Geschichte persönlich anzuhören. Ich übernehme die volle Verantwortung. Wenn Euch sein Bericht nicht zufriedenstellt, führe ich eigenhändig jede Bestrafung durch, die ihr mir für die beiden anweist.“
Rayan ärgerte sich. Er merkte, warum Hanif so förmlich war. Was war heute mit ihm los? Erst widersprach er ihm vor Jassim und nun war er auch noch beleidigt?! Was bildete der sich eigentlich ein?
Und so entgegnete er eisig: „Vorschlag angenommen. Und im Anschluss an das Gespräch mit dem Händler sprechen wir über DEINE Strafe.“
Hanif war blass geworden, doch er sagte nichts, verneigte sich tief und ging, um Hatem zu holen.
1991 - Rabea Akbar – Morgendämmerung
Als Rayan erwachte, wusste er nicht, wo er war.
Das Zimmer war ihm definitiv unbekannt. Er lag in einem Bett mit rot-weißen Bezügen, die Wände um ihn herum waren weiß getüncht. Alles war ordentlich und hell. Auf einem Schreibtisch standen sogar ein paar bunte Blumen in einer Vase.
Er sah an sich herunter und stellte fest, dass er einen dunkelblauen Pyjama anhatte, den er ebenfalls noch nie gesehen hatte, der ihm aber sogar ganz gut zu passen schien.
Rayan versuchte aufzustehen, doch weiter als in eine am Bettrand sitzende Position kam er zunächst nicht. Dann überkam ihm heftiger Schwindel und er wartete ab, bis sich das Zimmer aufhörte zu drehen. Das verriet ihm, dass er offenbar länger weggetreten gewesen war.
Er überprüfte sein Gesicht, aber auch das gab ihm keinen Aufschluss, denn jemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu rasieren. Wo zum Teufel war er bloß?
Gerade als er seinen schmerzenden Kopf anstrengen wollte, sich zu erinnern, ging die Tür auf und eine Haushälterin in schwarzer Kleidung mit weißer Schürze kam herein. Als sie ihn auf dem Bett sitzen sah, machte sie postwendend kehrt und rief ins Haus hinter ihr auf Englisch: „Er ist wach!“
Also blieb er einfach erst einmal sitzen. Offenbar würde nun jemand kommen, der ihm sagen würde, wo er war.
Kurz darauf hörte er zwei Paar Schritte im Flur und ins Zimmer traten Julie und Jack Tanner. Das Haus des Generals! Natürlich! Er konnte sich verschwommen erinnern, dass er hierhergekommen war. Aber wie lange war er hier?
Julie Tanner war sehr blass und erheblich schlanker als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Damals beim Essen, zusammen mit Clara. Clara! Auf einmal fielen die Puzzleteile in seinem Kopf an ihren Platz und Bilder der Erinnerung durchblitzen ihn.
Die Frau des Generals trat zu ihm und nahm ihn, ohne zu zögern in den Arm. „Wie geht es dir Junge?“, fragte sie leise.
Rayan vermutete, dass sie es war, die ihn rasiert hatte und schämte sich ein bisschen. Er musste ja fürchterlich ausgesehen haben!
Der General war am Eingang stehen geblieben und verschränkte die Arme vor der Brust. Offenbar hatte Julie ihm klar gemacht, dass sie hier zuständig war. Was musste er von ihm denken?
Aber Claras Vater lächelte und sagte nur „Willkommen zurück bei den Lebenden. Du hast dir ja Zeit gelassen …“, wobei er sofort energisch von Julie unterbrochen wurde „lass ihn Jack, sein Körper hatte den Schlaf nötig, du hast doch gesehen, wie ausgemergelt er war!“
Dann wandte sie sich an Rayan: „Und du denkst überhaupt nicht daran, aufzustehen. Jetzt wird gegessen und dann wieder geschlafen!“
Rayan fühlte sich viel zu schwach, um zu protestieren und war froh, dass sie ihn nicht mit Fragen bombardierten. Er aß ein wenig Suppe, um sich dann gleich im Anschluss wieder hinzulegen. Schnell war er wieder eingeschlafen.
1991 - Rabea Akbar- Das Verhör
Die folgenden Tage liefen alle ähnlich ab: Julie kümmerte sich rührend darum, dass er aß, trank und ansonsten schlief. Seine Proteste, dass er ihr nicht länger zur Last fallen wollte, wischte sie weg und so fügte er sich ihren Anweisungen. Er spürte, dass es um mehr als seine eigene Genesung ging, auch Julie schien es immer besser zu gehen, jetzt wo sie gebraucht wurde.
Den General sah er nicht.
Er hatte inzwischen von Julie erfahren, dass er an einem Montagnachmittag im Januar, wenig mehr als vier Wochen nach Claras Tod bei ihnen aufgetaucht war. Die folgenden fünf Tage war er in einer Art Koma gelegen. Laut dem sofort durch den General gerufenen Arzt verursacht durch völlige Erschöpfung. Nach Beendigung seiner Mission hatte der Körper einfach abgeschaltet.
Mittlerweile neigte sich der Januar dem Ende zu.
Wann immer das Wetter es erlaubte, ging Rayan in den schönen Garten. Aufgrund des milden Klimas wurde es, trotzdem die aktuelle Jahreszeit Winter war, selten kälter als 7-8 Grad und tagsüber erreichten die Temperaturen oft genug sogar 20 Grad.
Fast immer begleitete ihn Julie, wenn er nach draußen ging.
Sie sprachen nicht viel, meist saßen sie nur schweigend da.
Eine Woche nach seinem ersten Erwachen fragte Julie ihn: „Gibt es jemanden, dem wir sagen müssen, dass du hier bist? Deine Familie macht sich sicher Sorgen?!“ doch Rayan schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden.“ Und beide wussten, was er dachte und nicht laut aussprach: „Außer Clara gab es hier niemanden – er war wieder alleine.“
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