Als die Dunkelheit hereinbrach, begann er seine Skulpturen doppelt zu sehen; und später, gegen zweiundzwanzig Uhr, bemerkte er entsetzt, dass eine seiner eisernen Monsterkreaturen zum Leben erwachte.
Der gut armlange Riesenskorpion sprang von seinem Tisch herunter auf den Boden und kroch langsam auf seinen Erschaffer zu, der ihm aus hervorquellenden Augen anstarrte.
„Aber du...du bi...bist doch nur eine Skulptur“, stotterte der Künstler und wich zitternd Schritt für Schritt zurück.
Zischend und fauchend, den Stachel bewehrten Schwanz angriffslustig hoch aufgerichtet, kroch der Skorpion weiter auf ihn zu. Eiserne Klauen schrammten über den glatten Atelierboden, mordlustig funkelnde Augen starrten das Opfer höhnisch an.
Ken Malkowitsch erwachte aus seiner Erstarrung. Nur raus hier, dachte er von Grauen erfüllt und sprang von seinem Stuhl auf.
Doch leider hatte er seinen Alkoholkonsum vergessen!
Er strauchelte, fiel, und schlug sich den Kopf am Eisenkörper des Monsterskorpions auf. Dieser ging unverzüglich zum Angriff über. Bösartig grell blitzte sein Stachel auf, senkte sich und ... stieß zu!
Von der Skulptur löste sich ein nur etwa handtellergroßer Skorpion, lief zu einem Loch in der Wand, zwängte sich hindurch und eilte zu der schmalen Tür zum Nachbarhaus, die sich im selben Moment öffnete.
„Komm her zu mir“, befahl der ganz in schwarz gekleidete Mann. Er bückte sich, nahm den Skorpion in seine Hand, setzte ihn sanft auf den roten Samt in einem schwarzen Onyx-Kasten und ging zu Ken Malkowitschs Wohnungstür.
Mit seinen fahlen, überlangen Fingern strich er über die geschlossene Tür. Sie öffnete sich wie von Geisterhand bewegt. Der Schwarzgekleidete trat ein.
Ohne den Toten zu beachten, hob er die dicht neben diesem liegende Skorpion-Skulptur auf und bestrich deren Stachel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, bevor er sie zurück auf den Tisch stellte, von dem sie herabgestürzt war. Dann verließ er das Atelier genauso geräuschlos wie er es betreten hatte.
Mr. Gernot Thomsen, der ältere Herr mit der Glatze, wurde in dieser Nacht von einem schrecklichen Albtraum heimgesucht, aus dem er in Schweiß gebadet erwachte. Plötzlich hatte er das Gefühl nicht mehr allein zu sein.
„I...ist da je...jemand?“, stotterte er ängstlich und tastete zitternd nach dem Lichtschalter. Aber der war nicht mehr dort, wo er eigentlich sein sollte!
Gernot Thomsen riss sich mannhaft zusammen, schwang seine Beine über den Bettrand, um aufzustehen, als ihn ein bösartiges Zischen erstarren ließ.
„Was ist das?“, flüsterte er auf die in der Dunkelheit glühenden Augen starrend, die sich förmlich an ihm festsaugten. Er ließ sich aufs Bett zurückfallen und blieb stocksteif liegen.
Die glühenden Augen rücken näher und näher. Bedrohliches Zischen schürt Gernot Thomsens Furcht. Er wimmert, ist zu keiner Bewegung fähig und der Panik, die ihn zu verschlingen droht, hilflos ausgeliefert.
Er möchte schreien, möchte fliehen und sich vor dem – ja, vor was eigentlich? – verstecken. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht. Starr wie eine Mumie liegt er auf seinem Bett und starrt in die Dunkelheit, starrt auf das, was er nicht erkennt und schon gar nicht zu erklären vermag.
Was ist bei ihm im Zimmer?
Das zischende Geräusch verstärkt sich, wird intensiver. Glitzernde Augen lodern feuerrot, rücken näher, immer näher an sein Bett heran! Nach Schwefel stinkender Atem dicht über ihm; und blankes Entsetzen verzerrt sein Gesicht. „Wer...wer si...sind Sie?“, stottert er fast verrückt vor Angst.
Leises, unsagbar böses Lachen antwortet ihm. Etwas oder irgendwer beugt sich über ihn. Lodernde Augen dicht vor seinem Gesicht nehmen seinen Blick gefangen, versenken sich in ihn, holen das tief in ihm verborgene Böse hervor, bringen sie ans Licht die schaurige Tat von einst, verlangen nach seiner schwarz befleckten Seele.
„Ich gehorche dir“, flüstert er unterwürfig. Er hat seinen Meister gefunden.
Zischendes Lachen voller Bosheit, voller Triumph antwortet ihm. Etwas durchbricht die Mauer zu seinen verborgenen Erinnerungen, fegt die zum Selbstschutz errichteten Barrieren beiseite und zerrt genüsslich hervor, was verborgen bleiben sollte.
SEINE SCHRECKLICHE TAT, BEGANGEN VOR FÜNFZIG JAHREN!
Gernot Thomsen wimmert, versucht die Erinnerungen wieder in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses zu verbannen.
„Zu spät“, flüstert ER. „Du musst dich stellen.“
„Nein“, wimmert der Mann auf dem Bett.
„Oh doch, kleiner Mensch“, kichert ER. „Durch deine grausame Tat wurdest du mein. Von jetzt an gehörst du auf ewig mir! Weißt du noch?“
„Nein“, stöhnt der Mann, doch wie ein Film rollt das Geschehen noch einmal vor ihm ab:
„ Ich will nicht zur alten Mühle gehen, Gernot. Sie ist so weit weg und es gibt dort bestimmt Ratten“, wehrte sich sein neun Jahre jüngerer Bruder Martin, ein Nachzügler von sechs Jahren und der auserkorene Liebling der ganzen Familie.
Gerade als sich Gernots Eltern schweren Herzens damit abgefunden hatten kein zweites Kind mehr zu bekommen, hatte es doch noch geklappt. Martin war unterwegs, von seinem Bruder bereits vor seiner Geburt aus tiefster Seele gehasst.
Reg deine Mutter nicht auf, es könnte dem Baby schaden.
Sei still, Gernot, deine Mutter und das Baby unter ihrem Herzen brauchen Ruhe.
Widersprich deiner Mutter nicht, Gernot, in ihrem Zustand schadet ihr jegliche Aufregung.
Denk an das Baby, Gernot! Tagaus, tagein dieselbe Litanei; und das Wort „Baby“ wurde für Gernot zum meist gehassten Begriff in seinem Leben.
Und dann war es endlich soweit. Sein Bruder Martin erblickte das Licht der Welt und damit begannen für Gernot erst die wirklichen Probleme.
Sei vorsichtig, Gernot, dein Bruder könnte fallen.
Sei ruhig, dein Bruder schläft.
Nein, du kannst nicht zu deinem Freund, du musst auf deinen kleinen Bruder aufpassen.
Und dann wurde sein Vater auch noch arbeitslos und ständig hieß es: Gernot, dein Bruder ist noch so klein, er hat doch überhaupt noch nichts vom Leben gehabt, da kannst du doch wohl mal verzichten.
Und er schluckte und verzichtete; schluckte und sagte wieder ein Fußballspiel mit seinen Freunden ab, um auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Bis er sich in Karen verknallte, die sich jedoch seinem Schulkameraden Kevin zuwendete, weil er nie Zeit für sie hatte.
„ Ich muss auf meinen Bruder aufpassen, Karen, aber morgen kann ich bestimmt.“ Und auch dann hatte er natürlich doch wieder keine Zeit, weil Martin, der Liebling seiner Eltern, einen Aufpasser brauchte.
UND DANN KAM DER TAG IN DER MÜHLE!
„ Nun stell dich nicht so an, Martin. In der Mühle gibt es keine Ratten, aber dort wartet ein wunderschönes Geschenk auf dich“, lockte Gernot.
Und Martin, der verwöhnte Nachzügler, spitzte die Ohren. „Geschenk?! Dort ist wirklich ein Geschenk für mich?“, fragte er gierig.
„ Ja, Martin. Etwas, dass du dir schon sehr lange wünschst“, versprach ihm Gernot mit dem aufrichtigsten Gesicht der Welt.
„ Also gut, dann lass uns hinfahren“, erklärte sich Martin nach kurzem Zögern einverstanden.
Und Gernot holte sein Fahrrad aus dem Schuppen, setzte seinen kleinen Bruder vor sich auf die Fahrradstange und radelte los.
Sie fuhren fast eine Stunde, denn ihr Ziel befand sich weit außerhalb des elterlichen Bereichs. Endlich tauchte die seit langem stillgelegte Mühle vor den beiden Kindern auf. Anklagend reckten sich ihre zerfledderten, skelettartigen Windmühlenflügel dem Himmel entgegen. Und der Wind strich wimmernd durch die leeren Fensterhöhlen und sang höhnisch sein Lied von Vergänglichkeit und Tod.
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