Toshira schüttelte die Bilder ab. Alles schien unwirklich. Träumte sie immer noch? Sie taumelte durch den Korridor in Richtung des Ratssaales. Fremde Menschen kamen ihr entgegen, kreuzten ihren Weg. Die Geräusche ihrer Schritte hallten unnatürlich laut. Diener, Angestellte, Bewaffnete. Niemand sprach sie an, als wäre sie nicht da. Ein einziges Chaos.
Was geht hier vor?
Toshira hatte den Ratssaal erreicht. Sie stieß die massiven Doppeltüren auf. Der Saal war leer. Umgestoßene Holzbänke und Stühle warteten darauf, wieder aufgerichtet zu werden. Eigentlich sollte hier der Rat versammelt sein.
Sind die D æmonen bereits eingetroffen? Wo ist Chan? Sie warf einen Blick durch das hohe Fenster des Saales. Es war dunkel. Ihr fehlten mindestens zwei Stunden.
Toshira eilte zurück in ihr Quartier. Immer wieder musste sie sich an den Wänden abstützen. Ihr war schwindelig. Vielleicht lagen die anderen ebenfalls träumend in ihren Betten.
Warum habe ich nicht nachgesehen? Ein Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Cheob war mit den anderen Reitkatzen vor der Stadt geblieben. Dæmonen näherten sich.
Es war nicht mehr weit zu den Quartieren. Toshira nahm Schatten wahr, die herabstürzten. Sie warf sich vorwärts, zog im Flug ihre Kasans und fuhr herum.
Vor ihr standen fünf Schwertgesellen. Die Abzeichen verrieten es.
“Halt!”
Vendira hatte den Schrei ausgestoßen.
“Das ist Toshira, sie gehört zu uns.”
Chan stürmte heran. Umarmte sie. “Toshi. Wo warst du nur?”
“Ich fürchte, ich habe geschlafen. Ich fühle mich seltsam.”
“Jetzt weiß ich, was nicht gestimmt hat. Du warst nicht mit im Ratssaal. Keiner hat es bemerkt. Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich bin die ganze Zeit nicht darauf gekommen, was es war.”
“Rasch, holt Eure Waffen. Legt Eure Rüstungen an.” Vendira winkte ungeduldig.
Vendira fluchte. “Jemand hat dir eine Droge verabreicht, Toshira. Wir müssen auf der Hut sein.”
“Moment”, meldete sich Ladhar. “Ich habe hier etwas, das fürs Erste lange genug an Euren Klingen haften sollte: Ein Rest Farbe auf der Basis von blauem Vitriol. Er gehört zu meinen Utensilien für den alchimistischen Unterricht. Eigentlich wollte ich Chan damit demonstrieren, wie...”
“Fass dich kurz, Gelehrter”, schnitt Vendira ihm das Wort ab. “Für Erklärungen ist später Zeit.”
“Wenn ich die Muster... wo habe ich denn... ah, hier.”
Ladhar langte nach einem von Vendiras Kurzschwertern. Sie zog es weg.
“Habe ich die Garantie, dass die Schwerter heil bleiben?”
“Ja doch. Ich kann nur nicht garantieren, dass die Farbe am Ende des Tages noch darauf haftet. Das ist das eigentliche Problem.”
Widerstrebend übergab Vendira dem Gelehrten eines ihrer Schwerter.
Geschickt vermischte Ladhar die Farbe mit einem feinen Pinsel mit Wasser. Er trug die Zeichen auf, ohne ein einziges Mal zu stocken oder eine Korrektur vornehmen zu müssen. Nach wenigen Minuten betrachtete er sein Werk. Die Klinge war auf beiden Seiten von der Parierstange bis zur Spitze mit fremdartigen Symbolen versehen.
So verfuhr Ladhar mit dem zweiten Kurzschwert und allen weiteren Waffen, die ihm gereicht wurden. Auch die Klingen der fünf Schwertgesellen sowie die Waffe des Obersten Schwertmeisters erhielten die besondere Behandlung.
“Das war die Letzte.” Ladhar lächelte erschöpft vor Konzentration. Er schien zufrieden mit seinem Werk. “Macht etwas daraus. Bringt mir ein Dæmonenhorn mit.”
Kaum hatte Ladhar die Worte gesprochen, stürmten Bewaffnete herein.
Klingen wurden blankgezogen.
Erleichtert senkten alle Ihre Waffen. Toshira, Adriël, Araneon, Tarodrim in seinem zeltartigen weißen Etwas, Amaru der Zayao-Soldat. Lormun. Zuletzt schlich der Medicus um die Ecke.
“Ich fürchte, weitere Arbeit wartet auf dich.” Vendira klopfte dem Gelehrten auf die Schulter.
Menon erschien aus der Kammer, in der Toshira gelegen hatte.
“Ceonskraut. Sie haben uns Drogen verabreicht.” Alle drehten sich zu dem Medicus um. Er hielt einen Krug in seiner Hand. “Es gibt eine Mischung aus Ceonskraut, die unsere verborgensten Gedanken zu Tage fördert. Sie oft pervertiert. Diese Ceonskraut-Tinktur wird oft als Wahrheitsserum verwendet. In größeren Mengen verursacht sie Rauschzustände und Alpträume. Zum Glück ist das Kraut extrem teuer. Daher wird es selten verwendet.” Er schwenkte den Krug. “Dieser hier stand in Toshiras Zimmer. Er ist fast leer.”
“Ich erinnere mich”, die Schwertmeisterin verzog das Gesicht. “Ich war sehr durstig. Das Wasser schmeckte zwar seltsam, aber frisch. Ich nahm an, es wäre mit Kräutern aromatisiert.”
“Es hat einen leichten Duft, der an Jasmin erinnert”, bestätigte der Medicus. Er zeigte auf Adriëls Feldflasche. “Darf ich?”
Menon öffnete den Behälter und roch daran.
“Jasminduft.”
Wie sich herausstellte, hatte jeder ein wenig davon zu sich genommen.
“Ich bin froh, dass wir das aufgeklärt haben. Wir müssen herausfinden, wer das getan hat.” Araneon kratzte sich unter seiner Augenklappe.
“Ich fürchte nur, dazu fehlt uns die Zeit.”
Zwischenzeitlich hatten auch die restlichen Kämpfer ihre Rüstungen wieder angelegt. So wirkte die Gruppe auf Chan wieder vertrauter. Sie lächelte. Besonders Tarodrim, der nicht mehr aussah wie eine Mischung aus Löwe und Luftgeist.
Vielleicht lag es auch am Nachlassen der Ceonstinktur.
Endlich waren alle mit Waffenrunen versorgt. Chan betrachtete fasziniert ihr Bastardschwert. Blaue, ineinander verschlungene Linien zogen sich über beide Seiten der breiten Klinge. Bald würde sich zeigen, wie gut ihr Lehrer gearbeitet hatte.
Die Zeit drängte. Die Gruppe brach auf. Zum Ceonstempel, den sie mit Finola als Treffpunkt verabredet hatten.
Chan bekam ein Bild von Navar übermittelt. Die Katzen kämpften bereits gegen Dæmonen. Erste Trupps waren verblasst. Das konnte nur eines bedeuten. Sie drangen in die Stadt vor.
“Dæmonen”, rief Chan. Unruhe brach aus. “Navar hat mir seine Eindrücke zukommen lassen.”
Der Oberste Schwertmeister wandte sich Chan mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu.
Luritri antwortete ihm. “Sie erscheinen aus dem Nichts. Meister Ladhar vermutet, dass sie eine Art Energiebahnen benutzen, um sich zwischen zwei Orten zu bewegen. Sie bestehen aus dem Æther der Elemente.”
Chai nickte.
Wir werden uns nicht kampflos ergeben. Wir werden sichere Wege auskundschaften. Den Feind bek ämpfen, wo es unumgänglich ist.
Toshira warf einen Blick um die Ecke. “Die Straße ist frei.”
Chan nickte. Es roch nach Erde. Staub wehte die Straße entlang. Luritri tippte Adriël auf die Schulter. “Du bist dran, Blauer.”
“Sehr wohl, Sei-Djin .” Der Halb-Lordrianer wandte sich zu Chan um. “Schau genau hin.” Er grinste. Kleinste Wassertropfen sammelten sich auf seiner Haut. Seiner Kleidung. Immer mehr bildeten sich. Wie macht er das blo ß? Seine Umrisse verschwammen. Sein Abbild schien zu schmelzen. Schließlich war er nicht mehr zu sehen. Chan blinzelte. Doch. Er bewegte sich. Dadurch sah sie ein Flirren in der Luft, mehr nicht. Sie blinzelte erneut. Sie konnte Adriël nirgends entdecken. Die Gefährten sahen sich fragend an. “Wie macht er das?”, fragte Ladhar fasziniert. “Es ist eine Art Spiegelung aus Wassertropfen”, erklärte Luritri. “So hat er es mir einmal beschrieben. Ich habe keine genauere Erklärung. Es funktioniert. Allein das zählt.” Sie fauchte leise.
Toshira spähte erneut um die Ecke. Sie wandte sich zu der Zayao um. Nickte ihr zu.
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