Die Bedienung des kleinen Steh-Cafés sah sie fragend an: »Tankstelle? Klar, keine zehn Minuten von hier. Nur – da kommen Sie nicht hin, gesperrt, die Hauptstraße meine ich. Bis morgen Mittag.«
Entsetzt starrte Marie die Frau mit der gelben Bluse und den spröden Haaren an. Sie konnte ihren Termin nicht platzen lassen! Monate hatte sie darauf hingearbeitet; nicht zu denken an die vielen Überstunden! Doch der viele Schnee, die gesperrte Straße und der leere Tank zwangen sie, in den Ortskern zu fahren und vor einem kleinen Hotel haltzumachen. »Was denken Sie sich? Ich kann doch nicht im Auto übernachten«, mit zornigen Augen fuhr sie den Mann hinter der Rezeption an.
Der zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. In dem Ort gab es nur dieses eine Hotel. Und das war ausgebucht.
»Ich glaub’ das nicht. Ich glaub’ das einfach nicht.«
Marie stieg wieder ins Auto und fuhr orientierungslos durch die gleich aussehenden Straßen. Sie parkte schließlich auf einem kleinen Parkplatz. Reichweite 0 km , zeigte der Bordcomputer. Sie wickelte sich ihren Schal um den Kopf und stöckelte entschlossen in eine kleine Seitengasse, an deren Ende sie ein Schild leuchten sah. Wenig später stand sie erleichtert vor der Eingangstür eines Gasthauses. Durchgefroren trat sie in den altmodischen und dunklen Gastraum, wo ihr warme und verbrauchte Luft entgegenschlug.
Sie ging zur Theke und sagte: »Ich muss dringend telefonieren. Und ich brauche ein Zimmer.« »Guten Abend«, murmelte der etwas ungepflegte Gastwirt, während er ein Bier zapfte.
Klappernd stellte er ihr ein schmuddeliges Telefon auf den Tresen, wobei er die fremde Frau wortlos musterte. Marie würdigte ihn keines Blickes und wischte betont angewidert den Hörer an der Hose ab, bevor sie ihn ans Ohr hielt. Wieso muss gerade jetzt der Akku leer sein und wieso habe ich das Aufladekabel zuhause liegen lassen? Während diese Fragen durch ihren Kopf schossen und sie sich gleichzeitig ihre Wortwahl für das bevorstehende Telefonat überlegte, ließ sie abrupt den Hörer sinken. Gleichzeitig drehte sich ihr der Magen um. Die Nummer war im Handy gespeichert, das im Auto lag!
Nach kurzem Überlegen rief sie im Büro an: »Hey Alex, gut, dich zu hören! Ich sitze hier in so einem Kaff, das im Schnee versinkt und brauche die Nummer von Johannson … Mein Handy? Hab’ ich nicht bei mir. Ja, ich warte.«
Sie notierte die Nummer und legte auf. »Alles gut. Ich hab’ alles im Griff«, flüsterte sie mehrmals und machte ihre Atemübung, um ihre Magenschmerzen zu lindern. Mit rotem Kopf und konzentrierter Miene wählte sie Johannsons Telefonnummer, erreichte aber nur seine Sekretärin: »Bestellen Sie ihm, dass ich den morgigen Termin auf den Nachmittag verschieben muss und ich mich gleich morgen früh bei ihm melde. Ja, ich weiß, dass Herr Johannson nicht länger warten kann. Nur bis morgen Nachmittag. Auf Wiederhören.«
***
»Hast du noch eins?« Der Junge stand vor der Alten und sah an ihr hoch. Sie lächelten sich an. »Komm sofort her! Ich will nicht, dass du …«, herrschte seine Mutter ihn an, die auf der anderen Straßenseite stand.
Die Alte winkte nur freundlich über die Straße, was der Mutter die Sprache verschlug und sie mitten im Satz verstummen ließ. Dann wandte sich die Alte wieder dem Jungen zu, der erwartungsvoll vor ihr stand, und gab ihm etwas Kleines, in Papier Gewickeltes, das sie aus einer ihrer Rocktaschen hervorholte. »Hier. Das macht gute Laune«, sagte sie aufmunternd. Der Junge ging einen Schritt zurück und musterte die alte Frau. Die zwinkerte ihm mit ihren warmen Augen zu, um sich dann umzudrehen und weiterzugehen, doch der Junge hielt sie zurück.
»Warte«, begann er und wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Die Alte legte ihre Hand auf seine Schulter:
»Ist schon gut. Du gehst nicht gern zur Schule, kann das sein?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, sagte sie: »Besuch mich mal wieder, dann gebe ich dir einen Tee, der wird dir helfen. Wenn du den regelmäßig trinkst, kannst du dich besser konzentrieren und das Lernen fällt dir leichter.«
»Meine Mama will nicht, dass ich dich besuche«, mit ehrlichen Augen sah er die Alte an.
»Spielst doch noch Fußball?«
»Jaha.«
»Wann denn?«
»Immer jeden Mittwoch, warum?«
»Da warte ich mit dem Tee auf dich. Kannst du Tee kochen?«
»’Türlich, hab’ ich schon gemacht.«
»Du musst mir versprechen, auf das heiße Wasser Acht zu geben. Nun gut, dann haben wir jetzt eine Verabredung, mein kleiner Freund«, lächelte sie und nahm ihren Fußmarsch vorsichtig wieder auf.
Vorsorglich stützte sie sich auf ihren Gehstock. Der Stock, der Mantel, der ihr fast bis auf den Boden reichte, und das schwarze Kopftuch gaben ihr von weitem ein hexenähnliches Aussehen. Doch ihr glattes und gütiges Gesicht mit den klaren Augen war das genaue Gegenteil. Viele Wochen war sie nicht mehr im Ort gewesen, doch heute musste es sein. Warum, ahnte sie noch nicht. Doch alles Weitere würde sich ergeben, das wusste sie.
***
»Ist Ihnen nicht gut?«
Der Wirt tippte der jungen Frau an die Schulter. Sie saß mit gebeugtem Rücken zu ihm und hatte die Arme vor sich verschränkt: »Haben Sie was für meinen Magen?« Ein Lächeln huschte durch seine Augen und er befüllte ein Schnapsglas mit einer dunklen Flüssigkeit, die er aus dem Gefrierschrank holte.
Nach dem zweiten Glas murmelte Marie: »Was soll ich nur machen?« Der Wirt sah sie über seine Brillengläser an und wartete.
»Ich verliere gerade den größten Auftrag, den ich bisher hatte. Und warum? Weil’s ein bisschen schneit.«
»So schlimm wird’s schon nicht sein.«
»Haben Sie nicht richtig zugehört? Ich verliere gerade viel Geld, wegen nichts!«
Der Wirt machte sich daran, Gläser zu spülen und wischte mit einem Lappen die Theke ab. Angewidert nahm Marie etwas Abstand.
»Was machen Sie denn beruflich?«
»Denke nicht, dass Sie davon was verstehen«, war die Antwort.
Der Wirt runzelte nur die Stirn, stellte vier frisch gezapfte Biere aufs Tablett und ging zu den Kartenspielern in der hinteren Ecke des Gastraums. Dann verschwand er in der Küche. Maries Magen gab etwas Ruhe und der Alkohol begann zu wirken. Ihr Blick fiel auf die Kartenspieler. Was es doch für einfache Menschen gibt. Laut sagte sie in Richtung geöffneter Küchentür: »Ich brauche ein Zimmer.« Die junge Frau wippte unaufhörlich mit dem Fuß und warf ungeduldige Blicke zur Küche. Sie konnte den Wirt zwar hören, aber nicht sehen. »Verdammter Mist«, schimpfte sie vor sich hin und zerrupfte einen Bierdeckel. Der Wirt tauchte mit einem dampfenden Teller Suppe auf, den er ihr vor die Nase stellte. »Denke, die tut Ihnen jetzt gut.« Dann ging er, ohne sie weiter zu beachten, wieder seiner Arbeit nach. Marie hob erstaunt die Augenbrauen, wusste aber nichts Passendes zu sagen und begann, wortlos die Suppe zu löffeln.
»Gehört hier jemandem ein weißer Sportwagen? Am Ende der Gasse, auf dem Parkplatz?«
Die laute und angespannte Stimme erschreckte Marie so sehr, dass sie sich verschluckte. Ein feuriger Stich in der Magengegend folgte. Sie drehte sich um und ein Feuerwehrmann stand direkt hinter ihr. »Ihr Wagen?«
Ohne dass Marie antworten konnte, hastete er zur Tür und rief über die Schulter: »Sie haben Glück, dass Sie hier sitzen. Die Fichte war wahrscheinlich morsch. Und dann der viele Schnee … Totalschaden.«
Marie schnappte nach Luft: »Machen Sie Witze?«
»Kommen Sie«, sagte er nur und eilte nach draußen. Marie stürzte hinter dem Mann her, Handtasche und Mantel ließ sie achtlos auf dem Hocker liegen. Zitternd vor Kälte stand sie etwas später neben ihrem völlig demolierten Auto, dessen Dach von einer Fichte fast vollständig eingedrückt war. Ihr Haar und ihre Schultern waren nach dem kurzen Weg bereits mit Schnee bedeckt.
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