Als sie die Waschstege am Wikingerstrand erreichten, waren bereits einige Frauen emsig bei ihrer Arbeit. Dazu gingen sie über den Steg und stiegen in eine der zahlreichen Holztonnen, die ins Wasser eingelassen und an den Stegen befestigt waren. Das hatte den Vorteil, daß die Frauen nun trockenen Fußes und in Arbeitshöhe, ohne den Rücken beugen zu müssen, mit der Bürste, Wasser und Schmierseife die Teppiche bearbeiten konnten.

Maria fand einen freien Waschplatz und begann mit den Vorbereitungen. „Schau mal, da drüben ist Onkel Mattias.“ Der wollte gerade in sein Boot steigen und winkte zu ihnen hinüber. „Ich lauf mal schnell zu ihm hinüber“. André flitzte zurück über den Steg und auf einen der Bootsanleger. „Na, André. Hilfst du der Mama beim Teppichwaschen?“ „Ja, schon, aber große Lust habe ich keine. Wohin willst du?“ „Ich muß hinüber zu unserem Sommerhaus. Die Tante braucht die Nähmaschine, die dort noch vom letzten Wochenende steht. Hast du Lust mitzufahren? Frag doch deine Mutter. Ich warte so lange hier auf dich hier.“ Na, das war doch ein Wort. Alles war besser als Teppiche zu waschen. Das Inselmeer vor Vaasa liebte er wirklich und das Sommerhaus von Onkel Mattias lag auf einer der vielen Inseln in den Schären. André sprang schnell zu Maria, die ihm natürlich erlaubte mitzufahren. Sie wußte ja, wie sehr ihr Sohn das Bootfahren liebte. Sie kam schon allein klar und André würde dabei sicher wieder gute Laune bekommen.
Nach zwei Stunden waren sie wieder zurück, André hatte frische rote Wangen bekommen und half nun Maria die frisch duftenden Läufer zusammenzurollen und wieder auf den Gepäckträger zu schnüren. So radelten sie heim und während André von seiner schönen Bootsfahrt erzählte, bei der er auch mal steuern durfte, legte Maria mit ihrer nassen Fracht eine eindeutige Wasserspur auf der Straße vom Wikingerstrand bis zu ihnen daheim, wo Maria mit Andrés Hilfe sogleich die tropfenden Läufer im Garten auf die Leine hängte.
Zu Hause angekommen, verkroch sich André direkt in sein Zimmer. Er vermißte seine große Schwester schon jetzt sehr, und Bruder Bernhard kam sowieso nur noch selten nach Hause. Nach dem Bundeswehrdienst, den er noch in Vaasa absolvieren konnte, studierte er mittlerweile Betriebswirtschaft in Helsinki. André hatte sich so sehr gewünscht, daß er in den Sommerferien nach Hause nach Vaasa kommen würde. Aber Bernhard hatte in der Uni am Anschlagsbrett ein Jobangebot für die Semesterferien gelesen, sich beworben und auch den Job bekommen. Richtig stolz war er. Eine schmucke Uniform hatte er bekommen, denn er war als Chauffeur bei einer großen Fluggesellschaft angestellt. Seine Aufgabe war es, die Führungskräfte zu verschiedenen Geschäftsterminen zu fahren und sie dann auch wieder abzuholen. Manchmal sollte er auch einfach während der Besprechungen warten. Dann nutzte er die Zeit in der großen, von ihm immer blank geputzten HUDSON Limousine, um die Nase in seine Schulbücher zu stecken. Bernhard hatte nur noch selten Zeit für seine Eltern oder seinen kleinen Bruder.
Nach einer Weile hielt es André nicht mehr aus in dem stillen Zimmer. Er ging hinaus in die Küche, wo Maria bereits Vorbereitungen für das Abendessen traf. Vater Ingvar lag in den Kissen auf der Küchenbank und schnarchte. Dies war einer der wenigen Tage, an denen er sich freigenommen hatte. Nachdem Inga gut im Bus saß, konnte er sich jetzt etwas Ruhe gönnen.
„Mama. Kann ich nicht den Sommer über noch bei Tante Hella und Tante Erna in Pörtom wohnen? Es ist so still hier im Haus ohne Inga, und immer nur mit Håkan spielen ist auch nicht lustig. In Pörtom habe ich ja auch noch Axel, Johan und Christer. Zu mehreren kann man doch viel mehr anfangen.“
Maria ließ das Kartoffelschälmesser sinken und schaute ihren Sohn an. Sie flüsterte fast, um Ingvar nicht aufzuwecken. „Ich finde, das ist eine prima Idee. Wenn Papa aufwacht, rufen wir gleich mal bei Tante Hella an. Vielleicht kannst du ihr ja sogar ein wenig mit den Tieren helfen.“
Jetzt saß André am Küchentisch und wartete nur darauf, daß der Vater endlich aufwachte. Er hustete ein wenig, aber Ingvar wachte auch davon noch nicht auf. Sein Job war anstrengend und Ruhetage selten. „Schsch, sei leise und laß ihn noch ein wenig schlafen“, ermahnte Maria ihren Sohn. Sie schälte jetzt die letzten Kartoffeln. Auf dem Herd köchelte bereits der gute Rinderbraten, den es eigentlich nur an Sonntagen gab. Aber heute war der Vater daheim, das war etwas Besonderes, und dann machte Maria auch etwas Besonderes zu Essen. Neben dem Kartoffeltopf standen schon die Mohrrüben im Wasser.
André liebte gekochte Mohrrüben, und Rindfleisch mit Bratensoße mochte er auch am liebsten.
Ingvar rekelte sich und plötzlich war er hellwach. „Oh. Habe ich lange geschlafen?“ „Na ja, so ein kleines Stündchen“. Maria lächelte ihrem Mann zu. Ingvar und Maria führten eine gute Ehe. Zuhause war es harmonisch und Streit gab es keinen. Jedenfalls hatte André noch nie einen erlebt. Auch den Kindern gegenüber waren die Eltern nachgiebig und liebevoll. Weder Mutter noch Vater hatten jemals die Hand gegen ihre Kinder erhoben oder lautstark mit ihnen geschimpft.
Ingvar streckte sich und stand vom Küchensofa auf. Da sprudelte es auch schon heraus aus André: „Du, Papa, Können wir mal schnell bei Tante Hella anrufen? Mama und ich haben eben darüber gesprochen, daß ich doch noch die restlichen Sommerferien in Pörtom verbringen könnte.“ Ingvar wußte, daß André sehr gern auf dem Land war und auch immer gern bei den Tieren half. „Ja, wenn du meinst und Lust hast? Ich kann sie ja mal anrufen.“ Ingvar ging rüber ins Wohnzimmer, wo das Telefon auf dem kleinen Tischchen stand. Er wählte die Nummer seiner Schwester. Zuerst meldete sie sich nicht. Ingvar versuchte es mehrere Male, und André wurde immer unruhiger. Dann nach einer ganzen Weile meldete sich Tante Hella endlich. Sie war ein wenig außer Atem. Nur selten saß sie still im Haus. Immer gab es etwas auf dem Hof zu tun, entweder bei den Tieren oder im Gemüsegarten. „Na, das ist ja genau zur rechten Zeit. Wir sind alle schwer beschäftigt mit der Heuernte. Eigentlich kann André dabei ganz gut mithelfen.“
Es wurden nicht viele Worte gemacht am Telefon, und noch am selben Abend fuhren Ingvar und Maria André zu Tante Hella nach Pörtom.
Tante Hella und Tante Erna, die beiden Schwestern von Andrés Vater, wohnten gemeinsam in dem Haus der Eltern. Für beide hatte es zwar mal einen Mann gegeben, aber zu einer Heirat war es nie gekommen. Tante Erna war sogar mal verlobt, aber ihr Verlobter war im Krieg gefallen. Und Tante Hella hatten einen jungen Mann kennengelernt, als sie in einer Mühle im Nachbarort Arbeit hatte und auch dort wohnte. Auch ihr Freund arbeitete in dieser Mühle. Durch die schwere körperliche Arbeit zog sich Hella dort einen Hüftschaden zu und begann zu hinken. Dafür schämte sie sich so sehr, daß sie das Verhältnis zu dem jungen Mann aufgab und danach nie wieder eine Verbindung zu einem Mann anfing.
Und so kam es, daß Hella und Erna ihr Leben lang zusammen mit der verwitweten Mutter, Oma Anna, aber ohne Mann, den Hof bewirtschafteten. Nebendran stand Ingvars Haus, das jetzt nur noch an den Wochenenden und den Sommerferien bewohnt wurde.

Читать дальше