Vogelgezwitscher.
Ich öffne die Augen. In meiner Hand befindet sich eine hölzerne Lesepfeife. Ich blicke auf meine haarigen nackten Füße. Ich sitze auf einer Bank vor einem mit Gras bewachsenen Hügel, in welchem eine tiefgrüne, runde Türe eingelassen wurde. Um mich herum ein Bauerngarten: Kapuzinerkresse, Lavendel, Rosen und diverse Kräuter. Auch einige Weinreben hangeln sich den Hügel neben der Tür hinauf. Neben mir befindet sich ein kleiner Brombeerstrauch, von dem ich verträumt ein wenig nasche.
Ein Schlürfen links von mir lässt mich aufschrecken. Neben mir steht ein kleiner Mann, der aus einer weißen Porzellantasse Kaffee saugt. Er reicht mir auch eine Tasse und setzt sich neben mich auf die Bank. Auch er ergreift eine riesige Tabakpfeife, klappt eine Zeitung auf und fängt an langsam kleine Rauchringe in die vor uns liegende Hügellandschaft zu pusten.
„Ein wirklich wunderbarer Morgen mein Freund!“
Ich nicke zustimmend, nehme einen Schluck Kaffee und puffe den Tabak. In der Ferne sehe ich einen alten Mann näherkommen. Wie von selbst nehme ich noch einen tiefen Zug von der Pfeife und trinke den Kaffee mit einem großen Schluck aus. Eine unsichtbare Hand packt mich am Kragen. Die Kraft zieht mich herum, die kreisrunde Tür zur Höhle öffnet sich und ich werde hineingezerrt. Leise ertönt ein Geräusch, wie wenn jemand die Nadel eines Plattenspielers auf eine Schallplatte aufsetzt. Während ich nach der Quelle suche, erklingt eine Melodie: Es sind Reggae-Offbeats zu hören, eine Band wird auf Englisch angekündigt, ich suche weiter, jemand fängt an auf Deutsch zu singen, ich blicke in den nächsten Raum und entdecke endlich die Quelle: In dem Raum stehen elf Männer an unterschiedlichsten Instrumenten, alle tanzen und feiern ihre Musik. Einer der Männer verwandelt sich in einen Fuchs, rennt auf mich zu, springt mich an, reißt mich um und kläfft ununterbrochen im Rhythmus der Musik „aufstehen, …, aufstehen, …, aufstehen, …“ Der Fuchs reißt sein Maul auf und verschluckt meinen Kopf, ohne dabei mit dem Singen aufzuhören. Ich reiße mich herum, schlage mit Armen und Beinen um mich, versuche mich aus der Klemme zu befreien, doch im letzten Moment, gerade als die Beklemmung unerträglich zu werden scheint, schaffe ich es, das weiche Wesen von mir weg zu reißen und bin frei.
Ich blicke mich um. Strahlender Sonnenschein durchflutet den Raum. Meine Augen sind schwer. Ich versuch den Schlaf aus ihnen heraus zu reiben. Ich wühle meine Hand unter der Decke hervor und taste links neben meinem Bett den kleinen Nachttisch ab. Ich bekomme mein Handy zu fassen und schalte den Wecker aus. Der Song der Berliner Band stoppt abrupt. Ich blicke auf das Display. Keine neuen Nachrichten, nur die Uhrzeit. Mein Kopf dröhnt. Ein oder zwei Drinks weniger hätten es wohl auch getan. Wenn ich mich später beeile kann ich noch ein bisschen weiterdösen; verschlafenes Abwägen, doch schließlich überwiegt das Argument, dass man von kurzen Schlafperioden auch nicht wacher wird - die Schlummerfunktion ist gnadenlos. Ich reiße mit einem Ruck die Bettdecke von meinem Körper und schwinge mich auf die Bettkante. Aus der Nachtischschublade hole ich eine kleine weiße Packung hervor und schüttle sie nah an meinem Ohr. Wie ein kleines Kind sich über eine Rassel freut, so freue auch ich mich über das Geklimper der Packung. Ich lasse eine Brausetablette in der Wasserflasche verschwinden, die zu meinen Füßen bereitsteht.
Ich stehe auf, stecke mein Handy in die Tasche meiner Schlafanzughose und öffne eines der großen Fenster. Eine warme Sommerbrise streift mich und weht in das Zimmer. Die tiefrote wappenlose Flagge an der Wand schlägt Wellen. Das sommerliche Wetter der letzten Tage hat sich also gehalten. Diese Tatsache ist ein mindestens genauso gutes Schmerzmittel, wie die sich im Wasser auflösende Tablette.
Ich atme tief ein und erfreue mich noch einen Moment an dem angenehmen Wetter. Dann gehe ich zu meinen Anziehsachen, um zu sehen, ob alle meine Wertsachen noch da sind oder ob ich etwas verloren habe. Zuerst wühle ich in den Taschen der Jeans nach meinem Portemonnaie und lande direkt einen Treffer. Sehr gut! Und auch den zweiten Punkt meiner Suchliste kann ich schnell abhaken: Mein Schlüssel war zwar nicht in der Hose zu finden, doch ich sehe ihn auf meinem Schreibtisch herumliegen. Doch wo ist meine Uhr? Ich prüfe wieder meine Hosentaschen, den angrenzenden Sessel, grabe mich durch meine Bettwäsche, gucke noch mal über den Schreibtisch, wende mich erneut den Anziehsachen zu. Fuck! Wo ist meine Uhr?!
Stressschweiß, eine Hitzewelle.
Oh man, das wäre eine Katastrophe. Ok, ganz ruhig Marten, Ruhe bewahren. Ich setze mich auf meine Bettkante und trinke den letzten Schluck aus der Glasflasche. Am besten gehe ich in aller Ruhe durch, was ich gestern gemacht habe, nachdem ich Heim gekommen bin: Ich habe die Tür aufgeschlossen, habe meine Schuhe abgestellt und die Jacke aufgehängt. Hatte ich da meine Uhr noch an? Kein Plan! Egal, weiter überlegen: In der Küche ein vorgezogenes Frühstück, klassisch versackt und einen Drink heruntergekippt. Die nächsten Erinnerungen spielen bereits in meinem Zimmer: „Mad Men“ auf dem Laptop, die Zahnbürste im Mundwinkel, Laptop zugemacht. Kurz versucht zu lesen, bis die Buchstaben umherhüpften und der Inhalt direkt wieder in Vergessenheit geriet. Im Schlafanzug die Decke übergestreift, und gewartet, bis der Schlaf das Erlebte zu Erinnerungsresten werden lies.
Doch wann habe ich meine Uhr abgelegt? Habe ich sie verloren? Falls ich sie beim Zocken bei Friedrich vergessen hätte, hätte er mir bestimmt schon geschrieben.
Erneute Panik.
5000 Euro einfach so weg, das wäre schon leicht ärgerlich.
Doch dann ein Geistesblitz: Hatte ich mit dem Lesen nur aufgehört, weil mein Nervensystem mit dem Alkohol überfordert gewesen war? Don Drapers Konsum in „Mad Men“ war doch auch nicht geringer und er konnte trotzdem kreativ sein. Der eigentliche Punkt könnte gewesen sein, dass mich während des Lesens meine Uhr am Handgelenk gestört hatte.
Ja, jetzt glaube ich mich richtig zu erinnern: Ich hatte sie abgelegt und mir war aufgefallen, dass es schon halb sieben Uhr morgens war. Deswegen hatte ich bestimmt aufgehört zu lesen und nicht, weil ich zu betrunken war. Ich blicke also auf meinen Nachttisch und tatsächlich, unter einem aufgeklappten Buch liegt meine Uhr. Der ganze Stress mal wieder umsonst – sollte ich weniger trinken?
Wir haben früher häufig Familienurlaub in Bungalows in Südfrankreich gemacht. An heißen Sommertagen riecht für mich das Haus immer nach solchen Urlauben. Wegen der leichten Katerstimmung fühle ich einen Moment lang Fernweh und etwas Einsamkeit. Zwei drei Atemzüge später wird mir aber bewusst, wie sehr ich es mag, das Haus komplett für mich alleine zu haben. Meine Eltern waren vor ein paar Tagen zu einem Urlaub in unserem Ferienhaus in der Provence aufgebrochen. Ich atme noch einmal den Geruch ein, der mich so an die alten Urlaube erinnert. Immer diese Nostalgie. Ich schüttle den Kopf und lasse den Duft einfach von einer frisch entflammten französischen Zigarette überdecken.
Als ich die Treppe nach unten gehe, begleitet mich die Ruhe des leeren Hauses. Auf den letzten Stufen höre ich schon die Standuhr im Wohnbereich zweimal schlagen: 14 Uhr. Ich beseitige die Spuren meines Abendmahls und lege an der Musikanlage „Hest“ von Kakkmaddafakka auf den Plattenspieler.
Sommer – Freude – Tanzlust.
Laut mitsingend wärme ich einige Aufbackbrötchen im Ofen auf und mache mich daran Orangen für meinen Saft auszupressen.
Ein paar Minuten später sitze ich an meinem Lieblingsplatz im Garten: Der Tisch im Schatten, direkt am schmalen Bachlauf, der in unseren Teich mündet.
Mettbrötchen, Camembert mit Feigensenfsauce, Saft und ein starker Kaffee stehen vor mir bereit. Dazu noch diese Ruhe, weil niemand überflüssig smalltalken will. Der Tag rückt sich Stück für Stück in ein positiveres Licht. Eine neue Zigarette zwischen den Lippen strecke ich mich in der prallen Sonne. Ich lasse kleine Rauchschwaden in den sonst wolkenlosen Himmel aufsteigen. Der letzte Schluck schwarzen Suds wandert die Speiseröhre hinab und so kommen meine Gedanken langsam in Fahrt:
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