Knappe Stellungnahme gefällig?
18. Dezember Monate des Wirbels, der Bedrängnis, des Bangens, der Belastung, Selbstzweifel und Vereinzelung – sieben, um genau zu sein, die ich meine Gedankenbrut mental in der Gefängniszelle aussaß. Einem unterirdischen Verlies der Finsternis zwischen Stahl und Mauern – ohne Vor und Zurück. Mit kleinem, vergittertem Luk, durch das keine Prise Sonne flutete. Bis mir endlich der Ausbruch gelang und ich mich traute, die illustrierten, unzensierten, gemischten Gefühle aus Reue und Groll in meiner Praktikumsstelle zur Sprache zu bringen. Meine Kollegin empfand den Vorfall und wie mit diesem umgegangen wurde als hochgradig überspitzt und albern. Sie fing zornig zu protestieren an, dass die hart erkämpfte Emanzipation der Frauen durch die Verschleierung zunichtegemacht werde. Aber nein. Das Thema ist viel umfangreicher. So umfangreich, dass ich es jetzt nur anschneiden will – in einer energischen, rauen Sachlichkeit, die meinem Selbstschutz und der Abgrenzung dient und daher kaum Platz für Feinheit gewährt. Dabei hätte es inhaltlich eine detaillierte Ausführung von mehreren hundert Seiten verdient, weil’s ohnehin Vorurteile und falsche Schlussfolgerungen schürt, was innerhalb eines kurzen Abrisses nicht zu lösen sein wird. Ich bin keine Islam- oder Politikwissenschaftlerin. Nicht zuletzt deshalb fällt es mir überaus schwer, darüber zu schreiben. Trotzdem schlaucht mich diese Brisanz unermesslich. Bisweilen zermürbte sie mich sogar so arg, dass ich mich intensiv mit dem Koran, religiösem Fundamentalismus und den Pegida-Rassisten beschäftigte, denen ich zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte, da ich nicht wusste, wer konkret sich hinter ihnen verbirgt, und tatsächlich glaubte, es handele sich um harmlose Demonstranten, die an eine mir nachvollziehbare, kontrollierte Zuwanderung appellieren. Erst seit der Debatte um die Flüchtlingskrise wird deutlich, wie sich Gesellschaft und Politik spalten, wie leichtfertig Lob, Tadel und Etikettierungen über die Lippen gehen, und wie sehr man darauf achten muss, was man wie von sich gibt. Im Gegensatz zu einigen anderen EU-Staaten beweist Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine überaus hohe Bereitschaft. Allerdings steigt die Zahl der Migranten langsam derart krass, dass es vielerorts zu Überforderung und zum Zank um gerechte Verteilung kommt. Während ein Teil der Bürger bezweifelt, dass man den Überblick behalten und die Massen bewältigen kann, oder sich um knappe Kita-Plätze und überfüllte Schulklassen sorgt, stürzt sich der andere Teil in ehrenamtliche Mithilfe und schließt sich Merkels Meinung Wir schaffen das an. Gleichzeitig aber dürfen die Ängste etlicher nicht totgeschwiegen werden. Denn spätestens im eigenen Erleben hat Toleranz Grenzen. Und es ist eben nicht nur Aufgabe der Politiker oder die eines Sozialarbeiters, Erklärungen für Missstände zu finden, sondern sie aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, beim Namen zu nennen und dementsprechend zu behandeln. Natürlich lassen sich die Gründe für unangemessenes und straffälliges Verhalten beleuchten – das machen wir bei Europäern auch, or? Mangelndes Benehmen und Brutalität findet jeder doof – unabhängig von Herkunft und Kultur. Wenn unsereiner uns die Vorfahrt klaut, uns anrempelt oder bespuckt, und wenn wir eine Mutter dabei erwischen, wie sie ihr Kind schüttelt, wird sie maßlos kritisiert. Darf man’s auch wagen, Gleiches bei Ausländern zu tun und zu fordern, dass sie den Tatbeständen gerecht sanktioniert werden? Ich finde, ja.
19. Dezember Meinen Minijob (zuletzt bei Balzac Coffee) musste ich wegen eines Nervenzusammenbruchs aufgeben und meine Rentenversicherung auflösen. Mit dem Geld kam ich neben der Unterhaltszahlung meines Vaters eine Weile gut längs. Erst als die Reserve fast aufgebraucht war und mein 28. Geburtstag nahte, an dem ich nicht mehr darauf hätte bauen können, dass Klaas mir finanziell weiterhin unter die Arme greifen würde, kontaktierte ich ihn. Bis aber endgültig feststand, worauf wir uns einigten, und bis der Erbverzichtsvertrag beim Notar unterschrieben wurde, vergingen Monate des Kampfes, der Ungewissheit und Existenzangst. Je mehr ich die Kontrolle über meine Emotionswelt verlor, umso drastischer stieg die Kontrolle über mein Gewicht an. Ich begann, weniger zu essen und mir die Kalorien in den Mund zu zählen. Jeder Bruch meiner Disziplin endete über der Kloschüssel. Die Bulimie beherrschte mein ganzes Sein, ließ mich zutiefst verbittert und in Bezug auf meinen Bekanntenkreis kleinkariert und zickig werden. Wer keine Zeit für mich hatte, wurde gnadenlos aus meinem Leben gestrichen. Und wer mich mit seinen Problemen belagerte, den hielt ich auf Abstand. Alles, was mir einst Freude bereitet hatte, war zur Last geworden und zum Scheitern verurteilt. Irgendwann verlor ich gänzlich die Lust daran, an der Gesellschaft teilzuhaben, und auch von Pascals Zuneigung fühlte ich mich mehr und mehr erdrückt. Phasenweise stand unsere Beziehung auf dem Spiel, da ich willkürlich Gründe suchte, mich mit ihm zu streiten, ihn zu kritisieren und ihm aus dem Weg zu gehen. Durch meine Distanz verlor er sein Vertrauen und das Gefühl, von mir begehrt zu werden. Ich unterband jeden seiner Versuche, mit mir intim zu werden, und reagierte gereizt, sobald er mich darauf ansprach oder vermutete, ich würde mich für andere Männer interessieren. Überdies ging mir auf die Nerven, dass sich seine Mutter in ihrer Einsamkeit ständig an mich wandte. Sie war mir unsympathisch geworden, seit ich mitbekam, wie sie trotz des Verfalls ihres Mannes einfach weitermachte. Sie sträubte sich vehement dagegen, ihn bei sich daheim zu pflegen, um ihm ein schöneres restliches Leben zu ermöglichen. Stattdessen kümmerte sie sich ausschließlich darum, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen, ihre frisch gewonnene Freiheit zu genießen und seine ganze Kohle fürs Shoppen zu verprassen. Wenn ihr dann doch bewusst wurde, wie alleine sie eigentlich ist, heulte sie. Für ein solches Tamtam fehlte es mir an Verständnis und Kraft. Meine Kraft reichte nicht einmal für mich selbst. Um nach dieser aufreibenden Phase etwas Licht ins Dunkel zu bringen, schenkte meine Mutter mir für die Semesterferien im Sommer eine gemeinsame Reise nach Mallorca. Dieser Urlaub half mir dabei, ganze drei Wochen „clean“ zu bleiben, bevor das Praktikum in der Wohnungslosenhilfe begann und meine Essstörung erneut Achterbahn fahren ließ. Inzwischen ist’s im Schnitt nur noch ein Rückfall pro Woche. Auch wenn es mir so vorkommt, als würde mein Leben und das, was ich daraus mache, wenig Sinn haben, laufe ich wieder. Und bin froh darüber, dass mein Partner mit mir läuft, obwohl er es häufig schwer mit mir hat. Von Klaas erhalte ich eine Abfindung, die mir monatlich in steuerfreien Raten zugeteilt wird und es ermöglicht, mir keinen neuen Nebenjob suchen zu müssen. Nach seinem Tod steht mir außerdem ein kleiner Teil seiner Immobilien zu. In der Hochschule fühle ich mich nach wie vor wie ein rotes Tuch. Aber ich zieh das jetzt durch. In der letzten Sitzung wurde ich von meiner Therapeutin gefragt, was mir die Bulimie Positives gebe. Darüber musste ich sehr lange nachdenken. Sie bietet Möglichkeit, Frustration auszudrücken, Gefühle wie Leere und Ohnmacht zu verdrängen, über die Stränge zu schlagen – alles zu essen, worauf man Bock hat und etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Sie ist mein Ventil, wenn ich traurig, verzweifelt oder wütend bin. Sobald dieser Drang, einkaufen zu gehen, in mir aufkommt, bin ich wie fremdgesteuert. Dann sind da zwei Geister in meinem Kopf, die miteinander darüber streiten, ob ich’s wage oder sein lasse. Das Engelchen redet mütterlich und umsorgend auf mich ein, ich solle doch meinen Körper lieb haben und meine Gesundheit nicht gefährden. Es macht mich darauf aufmerksam, welche Konsequenzen ich auf mich nehmen müsse und dass es nicht weitergehen dürfe wie bisher. Das Teufelchen schreit: „Du hast ein Stück Schokolade zu viel gegessen! Willste riskieren, morgen ’n halbes Kilo mehr zu wiegen? Du warst auf’m best way abzunehmen. Mach dir das jetzt nicht kaputt!“ Oder es flüstert: „Der Tag war echt beschissen. Was stellen wir die restlichen Stunden an? Ich weiß auch nicht ... Komm, lass verkriechen, gemütlich vorm Fernseher an nichts denken, nichts fühlen, einfach nur fressen und kotzen. Danach sind wir müde genug, um einzuschlafen.“ Meistens scheitere ich daran, dem Teufelchen zu widerstehen. Erst wenn die Tortur vorüber ist, sag ich zum Engelchen: „Hätte ich doch bloß auf dich gehört und das Geld gespart. Ich halte diese Magenschmerzen nicht aus. Wann endlich werde ich bereit sein, mir selbst zu begegnen? Warum fällt es so schwer, das Alleinsein und die mit ihm aufkommenden Emotionen zuzulassen?“
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