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Zwölf Jahre lang waren wir in Bungwana, und immer am selben Ort. Unsere Untersuchungsobjekte sind fast ausschließlich Antilopen gewesen - natürlich haben wir uns nicht ausschließlich mit ihren Menüs beschäftigt, Herr Ministerialrat. Wir haben an ihnen beobachtet, was das Herz erfreut und vielleicht auch gut zu wissen ist, wenn man diese Tiere erhalten will in unserer täglich schwieriger werdenden Welt. Wir waren in Mti Mwekundu mit ihnen so beschäftigt, daß wir nie daran gedacht haben, unsere Zelte einmal woanders aufzuschlagen, und manchmal bedaure ich das.
Sitatungas zum Beispiel hätte ich für mein Leben gern eine Weile untersucht, jene Sumpfversion unserer Kudus, die sich bei Gefahr ins Wasser stürzt und nur die Nase über die Oberfläche hält. Seit einer Woche gehen sie mir wieder im Kopf herum wie eine lästige Melodie. Leuchtend weiße Streifen auf rotbraunem Fell, oder zimtfarbenem, wenn's ein Bock ist, die bleigraue Fläche des Prinzessin-Christina-Sees sehe ich vor mir, heute See der Nationalarmee genannt, das heißt, wie er jetzt heißt, wissen die Götter, See des Hasen, Hasensee vielleicht; vielleicht hat er im Augenblick überhaupt keinen Namen. Aber ich sehe ihn vor mir, und jeder beliebige Geruch verwandelt sich in die Ausdünstung der ans Ufer gespülten Laichkräuter.
Das hat man davon, wenn man sich von Susanne überreden läßt, ins Konzert zu gehen, zum Trio Schmitt, Schmidt und Schmid. Auf ihren Bassethörnern spielten sie ein liebliches Trio, von Mozart natürlich. Nicht daß es mich etwa an die Schilfflöten der Fischer am Prinzessin-Christina-See erinnert hätte, schon deshalb nicht, weil nicht genug Fliegen um die Schmidt'-schen Häupter standen; man hätte sie auch von unserer Reihe aus noch sehen müssen. Nein, ich vernahm plötzlich mitten in der graziösen Mozart'schen Melodik einen wohlbekannten Laut, einmal, zweimal, dreimal. Das gerade begleitende Bassetthorn mußte ihn von sich geben. Er riß mich aus dem Konzertsaal, weit fort. Dieser Grunz in tiefer Lage, mehr Schnaub als Ton, kurz, abrupt, obstinat, komisch, grob, ein bißchen ordinär, zu dem gehörten Flußpferdaugen und -nasen, die aus kotbrauner Brühe ragen. Ein Zug weißkehliger Kormorane streicht dicht darüber hin, und irgendwo klatschen, halb im Papyrus verborgen, weißgepunktete und -gestreifte Körper ins Wasser, die eben, die mich nicht mehr verlassen wollen...
An den Gesprächen der Flußpferde habe ich immer meine Freude gehabt; wir waren nie lange genug an einem Ort, wo sie uns hätten alltäglich werden können. Ich muß auch im Konzert wieder gelacht haben. Gesichter wandten sich uns zu. Susanne legte behutsam ihre Hand auf meine, und eine kernige Mitdreißigerin lächelte mich apfelfrisch an. Wahrscheinlich wollte sie mich auf urbane Weise zurechtweisen; ich in meiner Naivität dachte, sie teile meine Freude. Ich hätte sie in der Pause gern um Nachsicht gebeten, ihr erklärt, wie fern mir Flußpferde letztlich liegen, daß wir nur in einer Art Urlaub an den Prinzessin-Christina-See gefahren sind, und das mehr wegen der Sitatungas; aber das hätte wohl zu Mißverständnissen geführt, und ich hatte auch nicht die Courage dazu.
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Gearbeitet haben wir, wo wir in den zwölf Jahren zu Hause gewesen sind, in Mti Mwekundu.
Mti Mwekundu heißt roter Baum, und der namengebende Baum stand auch nicht weit von der Station hoch über dem Steilufer des Ndogoflusses. Es war eine Erythrina . Alle fünf Monate traf der Name wirklich zu, wenn sie nämlich ihre runden, unansehnlich graugrünen Blätter mit der fahlgelben Unterseite abwarf und von oben bis unten mit roten Blütenpinseln bedeckt war, an denen sich Dutzende von Nektarvögeln, an die hundert manchmal, zu schaffen machten, wenn sie nicht gerade einander nachjagten. Brecht hat uns bekanntlich verboten, fürderhin Bäume zu besingen, und so werde ich meinem Drang, unserm Roten Baum eine Hymne darzubringen, bezähmen, Herr Ministerialrat, zumal er außerhalb der Blütezeit eigentlich nichts Besonderes darstellte.
Mti Mwekundu liegt im trockensten Teil des Kuravunaparks. Wasser gab es dort, zumal in der Trockenzeit, so wenig, daß wir oft ein schlechtes Gewissen hatten, es den Tieren wegzunehmen. Aus dem Untergrund des Ndogoflusses floß es von weit oberhalb in einem Plastikrohr zu den Blechhütten hin, die die Station bildeten, rein funktionellen Gebilden, die keinen Versuch machten, ästhetisch zu sein, jede mit einer breiten rundum laufenden Spalte zwischen Dach und Wand, durch die die Außenluft das ganze Jahr hindurch ungehindert Zutritt hatte; ein Moskitodraht hielt gerade noch andere stürmische Eindringlinge zurück. Unsere Behausungen schauten in eine Ebene hinaus, und ein Hügel trennte uns von den nahen Hütten der Parkwachen. In der großen Landschaft verloren sich ihre Behausungen so gut wie die unseren.
Wir alle kommen aus großen Städten, die in Landstriche eingebettet sind, wo jedes Stück sogenannter Natur, ein Waldstreifen, eine Wiese, selbst ein Moor oder eine Felswand, die zähmende und verkrüppelnde Hand des Menschen erkennen läßt. Freie Natur ist uns fremd, soviel wir auch davon reden. In der Landschaft um Mti Mwekundu aber gab es an menschlichen Spuren nur ein paar Pisten, je zwei Streifen roter Erde, zwischen denen das Gras so hoch stand, wie es konnte, ohne von unseren Wagen geköpft zu werden. Alles übrige war anderen Bewohnern dieses Planeten überlassen, Pflanzen, die es verstanden, die beiden jedes Jahr wiederkehrenden strengen Trockenzeiten zu überstehen, und Tieren, zahllosen kleinen und immer noch zahlreichen großen, wenn sie von dem wenigen leben konn-ten, was ihnen die Steppe bot. Ihre Pfade kreuzten unsere Pisten; aber auch unsere Piste konnte ihnen recht sein, dem Leoparden vor allem in den frühen Morgenstunden. Er mochte das taunasse Gras offenbar nicht so sehr.
Manche beunruhigt diese Landschaft tief, namentlich wenn sie aus Europa unmittelbar in sie versetzt werden; wir haben es immer wieder an Besu-chern erlebt. Sie scheint ihnen leer. Sie suchen, oft ohne es zu wissen, nach einem Zeichen menschlicher Präsenz und atmen auf, wenn nach hundert Kilometern Fahrt am Rand des Parks eine Bananenpflanzung oder gar ein paar Strohhütten auftauchen, so fremdartig sich in ihnen auch die Gegen-wart des Homo sapiens für sie äußern mag. Es gibt andere, die diese 'Leere' berauscht. Wir haben in unseren Anfangszeiten beides gekannt, die Beklemmung freilich nur selten.
Auch in zwölf Jahren bleibt dem, der aus den großen Städten kommt, die Menschenferne dieser Landschaft bewußt. Vollkommen verliert sich der Rausch, an solchem Ort zu sein, allein an ihm zu sein, niemals. Man weiß wohl, daß dies eine junge Landschaft ist. Diese weiten Flächen, aus denen sich hie und da abrupt steile, mehrzackige Hügel erheben, gibt es noch gar nicht lange. Sie sind das Ergebnis rezenter vulkanischer Aktivität, die eine riesige Lavadecke über das Land gebreitet und nur die Gipfel der alten Gebirge nicht überflutet hat. Aber über dieser Landschaft hängt etwas vom Atem der ersten Schöpfungstage. Diese Gras- und Buschflächen ziehen uns das Herz aus der Brust, aber nicht so, wie es ein Storm'scher Heideweg oder ein lauer Sommertag auf den Vorbergen der Alpen tun. Diese Landschaft schafft keine Sehnsucht, in tiefe Vergangenheit zu tauchen, keinen Trieb aufzubrechen, leuchtende Inseln im südlichen Meer zu suchen oder die graue Stadt am Watt. Diese Landschaft lädt nicht dazu ein, sie zu verlassen. Sie läßt nur das Bewußtsein sich in den grenzenlosen Raum hinein ausdehnen, wo man bereits ist. Jeden Morgen zieht sie es auseinander, und ohne Grenzen. Das ist wörtlich zu nehmen. Wohl weiß man, daß nach hundert, zweihundert Kilometern wieder Hütten auf-tauchen, Weiler, Dörfer, irgendwo in der Savanne auch Hochhäuser und eine gar nicht mehr unbegrenzte Stadt. Man weiß auch, daß nicht weit entfernt ein weißer Brandungsstrich den blauen Ozean von den gelben und braunen Tönen der Steppe trennt. Aber vor der Weite, in die man sich hineingestellt sieht, bedarf es keines Kraftakts, auch dieses alles in das sich täglich neu ausbreitende Bewußtsein aufzunehmen. Man kann gar nicht anders.
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