Was er aber fand, waren die Spuren der Entführer im Rasen. Jans besonderer Sinn spürte die Grashalme hinter der Terrasse, die niedergetreten waren und sich noch nicht wieder vollständig aufgerichtet hatten. Da musste jemand über den Rasen davongeeilt sein, der schwer war – vielleicht, weil er außer seinem eigenen Körpergewicht noch die 68 Kilo schwere Meike über den Rasen trug?
Noch nie hatte Jan seine Gabe derart bewusst eingesetzt. Sie war für ihn etwas Selbstverständliches und darum Beiläufiges. Er brauchte sie eigentlich nicht, aber er liebte es zu spüren , zum Beispiel wenn er mit einer Frau schlief. Ihre Erregung in seinem Kopf zu spüren steigerte sein Verlangen und konnte ihnen beiden unglaublich intensive Momente verschaffen. Jetzt aber setzte er seine Gabe gezielt ein, um die Spuren eines Verbrechens zu finden, und es war, als habe er nie etwas anderes gemacht.
Jan suchte sich einen der Abdrücke im Rasen aus, der vom Haus wegführte, und stellte seinen eigenen Fuß hinein. Er hatte Schuhgröße 46. Der Schuh, der den Abdruck verursacht hatte, war etwas größer. Das war die erste konkrete Information, die er über die Entführer erhielt: Der Mann, der die bewusstlose Meike aus dem Haus getragen hatte, trug Schuhe der Größe 48.
Nicht gerade typisch für Araber.
Aber nicht jeder Araber war Islamist, und nicht jeder Islamist war Araber.
Jan folgte den Abdrücken quer über den Rasen und durch die Hibiskus-Hecke, wo die Kidnapper diverse Zweige abgebrochen hatten, und nun kam er in den Bereich des Gartens, wo die beiden Männer – definitiv nur zwei! – durch das Malariakraut getrampelt waren. Daher die Erdkrumen im Haus. Die Spur wurde immer deutlicher. Er kam zum Zaun, der das Grundstück der Metzner-Villa umschloss und in den die Entführer ein großes Loch geschnitten hatten. Jan brauchte kein Licht, um das zu erkennen.
Jenseits davon war ein steiniger Acker. Jan konnte spüren , wo der Wagen der Entführer gestanden hatte, denn er hatte Kräuter und Getreide umgewalzt, aber viel mehr gaben die Abdrücke, die er spürte , nicht her. Breite Reifen, das war sein Eindruck. Vermutlich ein Geländewagen, vielleicht mit einem dritten Mann hinter dem Steuer. Um mehr zu erfahren, hätte der Boden weicher sein müssen, doch es hatte zuletzt vor zwei Wochen geregnet, und so konnte Jan nicht mehr erkennen, als dass der Wagen nach Süden davongefahren war. Dabei dürfte er in etwa zweihundert Metern Entfernung auf die asphaltierte Landstraße nach Afissos gestoßen sein, und damit verlor sich die Spur.
Haben sie nicht gesagt, dass ich mich sofort auf den Weg nach Ägypten machen soll?
Stattdessen stand er hier und versuchte, etwas über die Leute herauszufinden, die Meike entführt hatten, als wäre er ein professioneller Ermittler und emotional so gut wie unbeteiligt.
Aber ich muss wissen, was geschehen ist!
Jan ging ins Haus zurück, nahm eine große Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank sie in einem Zug halbleer. Dann schaltete er die Kaffeemaschine ein und ließ sie vorwärmen. Er brauchte Stärkung, denn bevor er nach Ägypten aufbrach, musste er noch einmal nach oben.
Es war zwei Uhr in der Nacht. Jan zog sein Handy hervor und rief Christos an, den Hausmeister der Firmengebäude unten in Volos. Er entschuldigte sich für die ungewöhnliche Störung zu derart früher Stunde und bat Christos, heraufzukommen zur Metzner-Villa und die Sache mit der Polizei zu übernehmen. Christos versprach, sich gleich auf den Weg zu machen, auch wenn er, wie er betonte, nicht verstand, worum es ging. Er würde etwa eine halbe Stunde brauchen. Diese Zeit würde Jan sich nehmen vor seinem „sofortigen“ Aufbruch nach Ägypten.
Er war inzwischen ruhiger geworden. Das Analysieren der Situation, das Sammeln von Fakten und Anhaltspunkten hatte dazu geführt, dass er sich wieder gefangen hatte. Es war und blieb ein grauenhaftes Gefühl, dass in seinem Haus ein solches Verbrechen hatte passieren können, und es war und blieb entsetzlich, dass Meike entführt worden war – doch die, die das getan hatten, waren nur Menschen. Sie mochten glauben, dass sie Jan nun im Griff hatten, aber sie hinterließen Spuren im Rasen und Dreck aus dem Garten auf der Treppe. Sie waren aus Fleisch und Blut, und das bedeutete, dass man sich gegen sie wehren konnte.
Gegen die Gamāʿa al-Islāmiyya?
Egal in welchen Terror er da hineingezogen werden sollte – er hatte nicht vor, den Anweisungen der Entführer bis ins Detail zu folgen. Er hatte seinen kühlen Kopf wiedererlangt. Der tote Grieche da oben im Schlafzimmer war keine Kleinigkeit. Selbstverständlich würde Jan die Polizei einschalten – nachher.
„Weißt du, was mich stört?“, murmelte er Richtung Telefon. „Dass du Oxford-Englisch sprichst. Mit Leuten wie dir bin ich noch nie klargekommen.“
Er trank einen Espresso, holte tief Luft und machte sich noch einmal auf den schweren Weg nach oben. Seine Sinne registrierten jedes feine Dreckbröckchen, das die Entführer auf der Treppe und oben auf dem Teppich hinterlassen hatten. Jan schloss die Augen, während er langsam zur Tür des Schlafzimmers ging, und versuchte, auf alles zu achten, was ungewöhnlich war. Schuhabdrücke fand er jedoch nicht; Teppichfasern richteten sich viel schneller wieder auf als niedergeknickte Grashalme.
Erst jetzt nahm Jan wahr, dass der Türrahmen in Höhe des Schlosses zerborsten war. Offenbar hatten die Einbrecher die Tür eingetreten. Mit brachialem Schwung musste sie aufgesprungen sein. Jan stellte sich vor, wie Meike und Dimitri im Zimmer nichtsahnend so miteinander beschäftigt gewesen waren, dass sie von der Außenwelt nichts mitbekamen. Als die Tür aufflog, musste Dimitri sich mit dem Rücken zur Tür befunden haben – ein klares, einfaches Ziel. Er hatte vermutlich keine Zeit gehabt zu reagieren, ehe die erste der Kugeln in seinen Körper einschlug.
War er sofort zusammengebrochen? Hatte er Meike unter sich begraben? Hatten die Entführer ihn beiseite gezerrt, um die entsetzte, schreiende Meike vom Bett zu ziehen und ihr die Betäubungsspritze zu geben?
Jan war jetzt nahe genug, um Dimitris nackten, toten Körper in allen Details spüren zu können. Selbst die feinen Salzkrusten von getrocknetem Schweiß nahm er wahr. Ja, sie hatten ihn von Meike heruntergewälzt, dessen war sich Jan sicher. Auch weil alle Einschusslöcher sich im Rücken befanden. Jan konnte sie spüren , die aufgerissene Haut, die Eintrittskanäle, das geronnene Blut, die zersplitterten Knochen – die Eindrücke, die sein Sinn ihm lieferte, fragten nicht danach, ob er solche Details vertrug. Sie zeigten ihm die ungefilterte Realität. Vermutlich war jeder einzelne Treffer tödlich gewesen. Trotzdem hatten die Einbrecher zehnmal, nein, zwölfmal geschossen, fast als wollten sie den Eindruck erwecken, wild drauflos geballert zu haben. Doch alle Einschusslöcher saßen in der Gegend des Herzens.
Profis.
Jan spürte die Schleifspuren im Bettlaken, wo Meike vom Bett herunter gezerrt worden war, er spürte auch wieder die drei Kondome, die rund um das Bett am Boden verteilt waren, sauber verknotet nach Meikes Art, und er folgerte, dass die beiden beim vierten Durchgang gewesen sein mussten, als die Einbrecher dem Vergnügen ein jähes Ende bereitet hatten. Das alles aber war eigentlich nicht wichtig, sondern wichtig war, was Jan möglicherweise übersah.
Irgendetwas stimmt nicht.
Er stand da im Schlafzimmer mit geschlossenen Augen, das Abbild des Zimmers im Kopf, und spürte : Etwas stimmte nicht. Das war seine klare Wahrnehmung. Doch er brauchte lange Sekunden, um darauf zu kommen, und als er es entdeckte, stieß er einen wütenden Schrei aus.
Es liegen keine Patronenhülsen herum!
Zwölf Schüsse hatten Dimitri durchbohrt und seinem jungen Leben ein Ende bereitet, aber die Patronenhülsen waren verschwunden.
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