Das geschäftige Gelärm war jäh verstummt, der ältere Mann hastete mit halb hochgezogenen Hosen davon, und augenblicklich war auch der Journalistin die Tragweite des Vorfalls klar. Irgendwo hockte ein Heckenschütze. Er hatte die dünne Wäscheleine zerschossen und damit allen Bewohnern und Besuchern der umliegenden Häuser seine Treffsicherheit bewiesen. Seine makabre Botschaft lautete: Ich bin in der Lage, jedes Ziel zu treffen, und sei es auch noch so klein und unscheinbar; eure Herzen liegen allesamt in meiner Schussweite, ich könnte, wenn ich will, eure Adern einzeln durchtrennen, absolut zielsicher eure Pupillen treffen; ich vermag den Lauf meines Gewehrs auf jedes Fleckchen eurer Leiber zu richten, ganz nach meinem Belieben.
Als der Brotkorb fiel, fühlte Anica, wie sich das Stadtviertel zu einem einzigen großen Herzen zusammenkrampfte und ein tiefes Stöhnen ausstieß. Ihr kam zum Bewusstsein, dass sie alle Gefangene eines finsteren Hexenmeisters waren, der sich weiß Gott wo verborgen hielt und darüber bestimmte, in welchen Bahnen ihrer aller Blut, ihrer aller Gedanken und Gefühle floss. Und das nur, weil irgendjemand eine Waffe mit Zielfernrohr besaß und ein militärisches Training absolviert hatte.
Dass alle die Botschaft des Snipers begriffen hatten, war eindeutig. Nirgendwo rührte sich mehr jemand und kein Geräusch war mehr zu hören. Sämtliche Fensterläden waren zugezogen und blieben fortan verschlossen. Die Kugel, die die Wäscheleine durchtrennte, war das Symbol ihrer totalen Gefangenschaft. Alle Fluchtwege, die aus dem Kriegsgeschehen hinausführten, waren abgeschnitten. Schon der Griff nach einem Stück Brot war ein Griff nach den Sternen. Wer es wagte, auch nur einen Fuß auf die Straße zu setzen, dem drohte das Schicksal der Brotlaibe.
3 Savka und Djmal
Hämmernden Herzens, aber auch mit einer gewissen Erleichterung, selbst aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem Hotelzimmer für den Heckenschützen unerreichbar zu sein, dachte Anica an den sicheren Hinterausgang zum Parkplatz des Hotels und stieß die Zimmertür auf. Sie steckte den Kopf mit der gewellten Blondhaarfrisur aus dem Türrahmen und schaute mit ihren ruhigen meerfarbenen Augen in den Gang hinaus, rief: „Djmal!“
Der kleine hagere Bosnier hockte mit den anderen Jungen auf dem Fußboden. Mit angehobenen Augenbrauen sah der Page zu der Reporterin auf. Sie blickte dem höchstens Fünfzehnjährigen offen in die grüngrauen Augen. Der Junge in der herkömmlichen Kleidung seines heimatlichen Dorfes, in Hemd und Hose aus dunkelblauer Baumwolle, mit wollener, dunkelbrauner Weste und Stoffschuhen mit Hanfsohle, war daran gewöhnt, dass sie nichts weiter trug als den knapp geschnittenen Body. Fast alle Gäste – ausschließlich Fremde – liefen im Sommer so auf ihren Zimmern herum. Auch die Männer trugen meist lediglich Badehose oder sogar Unterwäsche. Niemandem der Ausländer schien es etwas auszumachen, sich derartig dem Hotelpersonal zu zeigen. Beim Putzen hatte die Journalistin ältere Dienstboten, die oft noch den dunkelroten Fez mit zum Teil schwarzer Quaste trugen, sagen hören: „Uns betrachten sie nicht als gleichwertig, sondern als Menschen zweiter Ordnung. Da spielt es keine Rolle, ob man ein Stück bleiche Haut mehr zu sehen bekommt oder nicht. Obwohl unsereins beim Anblick so viel nackten Fleisches Regungen überkommen könnten...“
Anica drückte dem Boy ein paar Dinarscheine, die jetzt Bon genannt wurden, in die Hand; wie immer hatte sie eine 1-Dollar-Note dazwischen versteckt. „Sei so lieb, und hol mir eine Flasche Mineralwasser“, bat sie und stellte sich unter die Dusche. Der Junge kam zurück, noch bevor das lauwarme Wasser aus der Rohrleitung abgelaufen war. Anica hörte ihn ihren Namen rufen. Er kannte ihre Gewohnheiten: Mit der linken Hand durch den Schlitz im Plastikvorhang der Duschkabine nahm sie die bereits geöffnete Flasche entgegen. Unter der Brause stehend ließ sie die eiskalte Flüssigkeit in kleinen Schlucken wohlig in sich hineingluckern.
Durch das Plätschern vernahm sie eine Mädchenstimme, die den Jungen ausschimpfte, sowie Schlaggeräusche. Sie griente; das Mädchen klopfte das Bettkissen auf, um ihre Anwesenheit zu rechtfertigen, und der Page leerte den Papierkorb in einen Plastikmüllsack, derweil das Pärchen sich unaufhörlich anzankte. Sie hörte, wie der Junge das Zimmer verließ, und sie wusste, dass das Mädchen nun mechanisch nach der baumwollenen Bluse greifen würde, die sie über einen der unbequemen Stahlrohrstühle geworfen hatte. Die Bluse war völlig verschwitzt; auf der Schulterpartie zeichneten sich bräunliche Streifen ab, die von dem Lederriemen der Kamera stammten und verrieten, dass die Fremde keine synthetischen Stoffe an ihrem Körper vertrug. Anica konnte sich gut in das Mädchen hineindenken. Sicher würde es beobachtet haben, dass sie nie das Stari Grad verließ ohne ihren Filmapparat mit dem Auslösegriff in Pistolenform. Manchmal trug sie dazu noch einen selbstblitzenden Fotoapparat. Wenn sie ausging, hing über ihrer Schulter meistens eine Softumhängetasche, in der sich – kunterbunt durcheinander – Tape-Kassetten, Handtuch, Tele- und Weitwinkel-Konverter, Schminkzeug, Wechselakku, Halogenleuchte, Adapterring und Schreibgerät befanden: eine TV-Journalistin, wie sie im Dutzend – freilich ansonsten hauptsächlich männlichen Geschlechts – in Sarajevo herumliefen. Dafür trug die Fernsehfrau stets ihr Handtäschchen bei sich; Djmal hatte heimlich erforscht, dass darin lediglich ein Mini-Camcorder Platz hatte. Diese Reporterin hier kam aus Deutschland. Das Hausmädchen verband mit dieser Bezeichnung bestimmte Erinnerungen. Wie viele ihrer Landsleute hatte auch ihre Familie als sogenannte Gastarbeiter im Ruhrgebiet gelebt, das Mädchen war in Herne geboren und sprach deutsch wie alle anderen Kinder im Wohnviertel. Ihr Vater hatte im Norden an hochklassigen Autos mitgebaut, davor Kohle zu Tage gefördert, die man eigentlich im eigenen Land reichlich genug besaß, sich jedoch wegen des hoch subventionierten fremden Konkurrenzrohstoffs nicht abzubauen lohnte. Es gab hier genug Ältere, die erzählten, dass sie selbst dabei waren, als die Deutschen zusammen mit den Italienern das Land mit Krieg überzogen hatten. Sie hatten ihn verloren. Deutsche Landser, damals stationiert in dem Betonbunker oberhalb von Djmals Heimatdorf, waren von den Partisanen Titos vertrieben worden. Seit geraumer Zeit kamen wieder ausländische Soldaten; sie sprachen türkisch, holländisch, spanisch und französisch sowie englisch zum Teil mit dem quakenden Akzent der Yankees.
Das Wasserrauschen in der Duschkabine verebbte plötzlich.
Geschwind wollte das Mädchen aus dem Zimmer huschen.
„Bleib doch!“ rief Anica ihm nach.
„Zasto?“ fragte das Mädchen, hielt die Türklinke heruntergedrückt. „Warum?“
Die Reporterin war, das Badetuch umgeschlungen, ins Zimmer getreten. „Zasto ne?“ fragte sie zurück.
„Soweit ich mich erinnern kann“, entgegnete das Mädchen ernsthaft und altklug, „hat es immer Leute in unserem Land gegeben, die hier nichts zu suchen haben, aber trotzdem bestimmen, was zu geschehen hat.“
„Ich bin Gast hier“, sagte Anica, kratzte sich die nasse Kopfhaut, „und will später bei mir zu Hause berichten, was in deinem Land vorgeht.“
„Oprostite, molim“, sagte das Mädchen, sah schuldbewusst zu Boden. „Entschuldigen Sie bitte, man darf nicht unhöflich sein.“
„Wer sagt das?“ fragte Anica, um das Gespräch in Gang zu halten.
„Geistliche zum Beispiel; sie lehren uns, Demut und Dankbarkeit gegenüber den Fremden zu zeigen. Heute sollen es die Blauhelme sein, die das Land vor Serbien schützen. Doch man war und ist stärker als all die Fremden. Djmal sagt, dass es der Installateur Tripalo behauptete, der seine Werkstatt gleich neben dem Stari Grad betrieb. Als man ihn gefangen nehmen wollte, warf er den Soldaten eine selbstgefertigte Granate vor die Füße, die fast ein Dutzend Männer tötete. Einer schaffte es noch, bevor er starb, Verstärkung herbeizupfeifen. Von der halben Hundertschaft, die aus dem Patrouillenwagen sprang, erschoss der Klempner ein weiteres Dutzend mit einer Maschinenpistole, die er seit der Weltkriegszeit pfleglich versteckt gehalten hat. Schließlich traf ihn eine Kugel in die Schläfe. Djmal sagt, er sei ganz zweifellos ein Partisan gewesen. Der Franziskanerpater verkündete, es hätte sich um einen Terrorist gehandelt, aber jedermann weiß doch, dass der Installateur Tripalo ein Held ist, und sein Tod wurde von einer Reihe Soldaten bezahlt. Die Rechnung fiel also ungünstig aus für das Militär. Sagt Djmal.“
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