„Oh, tut mir leid. Bin wohl etwas durcheinander, natürlich … komm …“, stammelte Schmidt noch immer verlegen und lief los. Beide gingen zum Wagen, einem großen amerikanischen Jeep, der leise vor sich hinblubberte und zwei weiße Dampffontänen aus den Auspuffrohren in die klare Luft stieß.
„Er ist doch neu, oder?“, fragte Gerbig und deutete dabei auf den Wagen.
„Ja. Vor zwei Tagen hab ich ihn geholt. War ein gutes Angebot vom Händler. Musste einfach zuschlagen. Schön, nicht wahr?“
„Ja.“
„Na, dann lass uns mal das Baby spazieren fahren. Ich schlage vor, du bringst mich rüber zur Absturzstelle und danach ins Gasthaus.“
„Genau das hatte ich vor, komm.“ Schmidt ging um den Wagen herum, während Gerbig seine Reisetasche und einen Metallkoffer auf dem Rücksitz verstaute. Danach kletterte er in das hochgelegte Fahrzeug hinein.
„Welche Informationen hast du für mich?“, fragte Gerbig, während Schmidt bereits zügig vom Flughafengelände fuhr und er alle Mühe hatte, festen Halt an einem der Haltegriffe zu finden.
„Na ja, was soll ich sagen. Letzter Kontakt eine Minute vor Absturz. Es bestand klare Sicht, wolkenloser Himmel. Lufttemperatur minus acht Grad. Die Maschine befand sich auf Instrumentenanflug. Wir hatten die Cessna auf dem Schirm und plötzlich war sie verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere. Ich hab mir die Aufzeichnung angesehen, und es scheint so, als ob sie wie ein Stein vom Himmel gefallen ist. Das passt auch zu den ersten Berichten der Polizei. Der Pilot des Polizeihubschraubers gab durch, dass alle Wrackteile der Maschine in einem sehr begrenzten Radius liegen.“
„Habt mal wieder den Funkverkehr der Polizei abgehört, was?“, unterbrach Gerbig und drohte dabei lustig mit dem Zeigefinger.
„Ja, natürlich. Ich wollte schon wissen, was da los ist. Außerdem wissen die Jungs dort, dass wir mithören.“
„Und? Gibt es Funksprüche oder Hinweise auf eine Kollision oder einen technischen Defekt?“
„Nein, nichts. Die Maschine war in dem betreffenden Luftraum vollkommen alleine und der Pilot meldete ziemlich genau eine Minute vor dem Absturz, dass alles in Ordnung sei, und bestätigte das Landen über Instrumentenlandesystem. Den genauen Ablauf findest du in dem Bericht.“
„Kenn ich ihn?“
„Wen?“
„Den Fluglotsen?“
„Nein, ich glaube nicht. Es heißt Heribert Mögli, ist sechsundzwanzig Jahre alt und ein zuverlässiger Mann.“
„Sicher?“, fragte Gerbig misstrauisch.
*
Das Bild, das sich ihnen an der Absturzstelle bot, war bizarr. Schmidt und Gerbig blieben wie angewurzelt im Wagen sitzen und starrten durch die Windschutzscheibe des Jeeps. Eine seltsame Komposition aus einer strengen Schwarz-Weiß-Landschaft mit grellen, farbigen Gebilden darin breitete sich vor ihnen aus. Das Bild hätte in einer modernen Ausstellung mit Sicherheit den ersten Preis gewonnen.
Die roten Feuerwehrwagen mit ihren blinkenden blauen Lichtern und die Besatzungen mit ihren orangefarbenen Jacken hoben sich vor dem Hintergrund der Landschaft in solch einem Kontrast ab, dass es schon wieder seltsam schön wirkte. Der Löschschaum, der über dem Waldboden lag und zwischen den Bäumen und Sträuchern hing, war in der eisigen Kälte zu seltsamen, fremden Formen erstarrt. Schwarze, verkohlte Stümpfe von verbrannten Bäumen ragten aus der erstarrten Schaumdecke hervor und wirkten wie versteinerte Säulen aus einem fremdartigen Mineral, das wie die bizarren weißen Gebilde in dem strahlenden Sonnenlicht irisierend glänzte.
Das ganze Bild hätte verzaubernd gewirkt, wäre in der Mitte dieses scheinbaren Stilllebens nicht das Seitenleitwerk der Cessna zu sehen gewesen. Es ragte wie ein mahnender Finger aus der vereisten Schneelandschaft hervor, als wollte es daran erinnern, dass hier vor wenigen Stunden Menschen ihr Leben auf tragische Weise verloren hatten.
*
Schmidt und Gerbig stiegen fast gleichzeitig, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, aus dem Jeep aus. Mit unsicheren Tritten, ständig stolpernd, kämpften sie sich durch den gefrorenen Schaum und die verbrannten Überreste von verkohlten Ästen hindurch. Wenige Schritte vor den ersten Wrackteilen blieben sie wie auf ein stummes Zeichen hin stehen.
„Was denkst du? Hatte da jemand eine Chance?“, fragte Schmidt und starrte wie gebannt auf die verglühten Überreste des Flugzeuges, an dem Feuerwehrmänner mit schweren Rettungsscheren schweigsam arbeiteten. Lautes Knacken und Knirschen von Metall hallte dabei durch den verbrannten Wald, und Schmidt jagte dieses schweigsame Arbeiten einen kalten Schauer über den Rücken.
Da Gerbig solche Situationen schon des Öfteren erlebt hatte, fasste er sich sehr schnell, und aus seinen Worten drang die Professionalität, die Schmidt an ihm kannte und eigentlich auch schätzte.
„Nein. Hier hatte keiner eine Chance. Ich denke, dass sie alle auf der Stelle tot waren. Die Maschine hat sich, so wie es scheint, regelrecht in den Erdboden gebohrt. Man kann jetzt schon deutlich erkennen, dass sie fast senkrecht abgestürzt ist. Teile der Tragflächenhaut und auch die Triebwerke sind noch gut erhalten und wurden bei dem Aufschlag nach hinten gedrückt. Der Rumpf wurde gestaucht und die Kabinenbestuhlung wurde in den hinteren Teil des Flugzeuges geradezu hineingepresst. Ich bin mir sicher, dass hier keiner einer Chance hatte“, wiederholte er nochmals und sah Schmidt dabei mit dem sachkundigen Blick eines Beamten an, der fast jeden Tag mit diesen Dingen zu tun hatte.
„Scheußlich, wie du redest“, antwortete Schmidt und ein Schauder jagte ihm dabei erneut über den Rücken.
„Ich denke, es wird wohl besser sein, wenn du zurück zum Wagen gehst, anstatt hier zwischen den Trümmern herumzustehen“, sagte Gerbig, der den erschrockenen Ausdruck in Schmidts Gesicht richtig deutete.
„Ja, ich denke auch, dass es besser ist“, gab Schmidt zurück und lief langsam, sich noch mehrmals nach den Trümmern umdrehend, in Richtung Wagen davon.
Gerbig kletterte zu den Feuerwehrmännern, die schweigsam an der Cessna arbeiteten, zeigte seinen Ausweis vor und bat darum, glatte und gleichmäßige Schnitte zu machen. Er wollte bei der Untersuchung erkennen, was von den Männern verursacht wurde und was von dem Absturz herrührte. Danach lief er zum Wagen zurück, um einen Fotoapparat, ein Diktiergerät und eine kleine, handliche Filmkamera aus seinem Metallkoffer zu holen.
„Was willst du mit der Filmkamera?“, fragte Schmidt, der auf dem Beifahrersitz saß und sich nach Gerbig umdrehte.
„Ich mache immer erst eine Filmaufnahme von der Unglücksstelle, die ich mir später ansehen kann. Weißt du, in einem Film sieht so ein Absturz immer etwas anders aus als auf den Fotos. Die Bilder musst du erst richtig zuordnen. Was ich versehentlich nicht fotografiert habe, habe ich auf Band.“
Schmidt nickte nur mechanisch und sah wieder zur Cessna hinüber, an der jetzt Leichensäcke aufgereiht wurden. Ein paar Minuten lang sah er Gerbig und den Männern bei ihrer grauenhaften Arbeit zu, bis er angewidert die Augen schloss. Den Anblick von abgetrennten Armen und verkohlten Stümpfen, die aus dem Wrack gezogen wurden, verkraftete er einfach nicht. Erst als Gerbig seine Utensilien im Wagen verstaut hatte, den Motor anließ und langsam losfuhr, öffnete er sie wieder.
„Macht es dir denn gar nichts aus, wenn du so etwas Grauenhaftes siehst?“, fragte Schmidt, dem es sehr recht war, dass Gerbig jetzt am Steuer saß und die Fahrt nach Hause übernahm.
„Natürlich. Was glaubst du denn. Denkst du, es lässt mich kalt?“
„Ja. Es sieht jedenfalls so aus.“
Gerbig lachte bedrückt. „Ja, es sieht mit Sicherheit so aus. Ich kann dir aber auch sagen, weshalb: Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und schaue nicht auf das, was um mich herum passiert. Für mich zählen nur Fakten, abgerissene Triebwerke, wie das Flugzeug liegt, welche Teile zerbrochen sind und welche nicht. Es ist natürlich auch wichtig, wo die Passagiere gefunden wurden, aber das entnehme ich aus dem Bericht der Feuerwehr und nicht aus meinen eigenen Aufzeichnungen.“
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