Roman Rothenstein wusste so unendlich viel, und konnte zu jedem Thema etwas sagen. Gleichzeitig war er immer noch neugierig und konnte sich tage-, wochen-, manchmal auch monatelang in einem Thema vergraben.
Sie wusste inzwischen, dass er unsterblich war und daher unfair viel Zeit besaß, um sich Wissen anzueignen.
Das linderte ein wenig den Frust, sobald sie das Gefühl beschlich, dumm und unwissend zu sein. Vor allem, wenn er ihr aufzeigte, warum sie sich irrte oder schlichtweg zu wenig wusste, um glaubwürdig diskutieren zu können.
Mittlerweile hasste sie ihn nicht mehr.
Der Vampir hatte viel gefordert, aber auch viel gegeben. Er hatte sie gequält und ihr manchmal wehgetan, doch genauso oft hatte er sie getröstet und ihr Mut zugesprochen.
Er war ungeduldig und grausam, gleichzeitig zärtlich und inspirierend. Nach diesen sechs Jahren der emotionalen Hölle hätte man vermuten können, dass sie Roman Rothenstein nun bis ins Kleinste kannte. Doch sie ahnte, dass sie lediglich an seiner Lackschicht gekratzt hatte.
Eines glaubte sie aber zu wissen: Er hatte sie nie hintergangen.
Und er hatte ihr Einblicke in eine ganz neue Welt geschenkt. Die Tatsache, dass es magisch begabte Wesen gab, hatte sie sofort akzeptiert. Vermutlich lag das an ihrer eigenen Begabung, die für sie zwar immer Normalität gewesen war, doch sicher nicht für die Menschen um sie herum. Fasziniert folgte sie Romans Ausführungen über Hexen, Wandler, Vampire, Werwölfe und andere Werwesen der unterschiedlichsten Arten. Dafür, dass diese Völker sich seit Jahrhunderten versteckten, hatte Roman sehr viel Wissen über sie zusammengetragen. An die Wissenssammlungen der Hexen kam er vermutlich nicht heran, doch er bezweifelte, dass alle Hexen diese Informationen auch tatsächlich nutzen durften. Vermutlich war Selina daher eine von ganz wenigen, die über ein solch umfassendes Wissen verfügten.
Ein seltenes Privileg, für das sie ihrem Lehrer dankbar war.
Nein, hassen tat sie Roman nicht. Doch fürchten schon.
Sie spürte ihn hinter sich, bevor er seine Arme um sie legte und an sich zog.
„Spinnenmädchen, eine Aufgabe habe ich noch.“
Sie hörte seine Heiterkeit und ahnte, dass er sie wieder ärgern würde. Trotzdem lehnte sie sich an ihn und ließ die schlanken Hände gewähren. Nie hatte er sie an intimen Zonen angefasst, doch seine Berührungen lösten jedes Mal angenehme Schauer auf ihrer Haut aus.
Sie wusste, dass er es wusste, und dass er wusste, dass sie wusste ... na, egal. Jedenfalls war ihr klar, dass er es genoss, sie in diesen Zustand zu versetzen, ohne sie zu hypnotisieren.
Einmal hatte sie ihn gefragt, warum er sie nicht verführte. Seine Antwort hatte sie erstaunt.
„Den Fehler habe ich einmal begangen und werde ihn an dir nicht wiederholen“, ließ er sie wissen. „Versteh mich nicht falsch, Spinnenmädchen. Du bist eine echte Versuchung und ich werde zu gegebener Zeit mit dir meinen Spaß haben. Doch zunächst solltest du deine sexuellen Erfahrungen woanders suchen.“
Damit war für ihn das Thema erledigt gewesen und sie hatte es nicht mehr gewagt, ihn darauf anzusprechen.
„Ich werde dich tatsächlich ein wenig vermissen.“ Sie hörte sein eigenes Erstaunen über diese Worte. „Du kannst natürlich noch bleiben ...“
„Nein. Du hast mir versprochen, mich gehen zu lassen!“
Er lachte leise und küsste ihren Nacken.
„Das habe ich, ja. Morgen wirst du achtzehn und darfst in die Welt der Menschen zurückkehren. Allerdings habe ich dir auch gesagt, dass du mich nie wieder loswerden wirst.“
Seine Zähne kratzen über ihre Haut.
„Mein süßes und folgsames Spinnenkind. Ich bedaure, dass ich dir jetzt sehr wehtun muss. Doch ich bin nicht bereit, dich ganz aufzugeben. Du hast mir sehr viel Freude bereitet, und ich bin zuversichtlich, dass dies auch weiterhin der Fall sein wird.“
Der Schmerz war unerträglich. Nie zuvor hatten seine Zähne ihr solche Pein bereitet. Doch es war nicht nur der Biss in den Nacken. Sie spürte, wie die Magie aus ihm herauskroch und in ihr Innerstes drang. Wie Feuerschlangen wand sich der Schmerz durch ihre Blutbahn und brannte sich seinen Weg bis in ihre kleinste Nervenzelle.
Schluchzend und bebend hing sie in seinen Armen, als er endlich von ihr abließ. Vorsichtig hob er sie hoch und trug sie zu einer Liege, die an der Seite stand und ihr schon oft als Notlager für durchlesene Nächte gedient hatte.
Sanft legte er sie darauf nieder und küsste ihre zitternden Lippen.
„Selina Serra“, lächelte er. „Deine Lehrzeit ist beendet. Morgen beginnt dein neues Leben. Du trägst jetzt mein Zeichen und weißt, was das bedeutet.“
„Du wirst mich jederzeit finden“, flüsterte sie und versuchte krampfhaft, ihr Beben in den Griff zu kriegen. Noch immer kroch der Schmerz durch ihr Gewebe und pulste unerträglich.
Sie zwang sich, weiterzusprechen. Roman Rothenstein mochte keine halben Sachen. Er verlangte immer alles.
„Du wirst wissen, wenn ich an dich denke, wenn ich Angst verspüre und Schmerz. Und du wirst kommen, wenn ich dich rufe.“
„So ist es, meine Hübsche.“ Seine Hand strich sanft über ihre tränenfeuchte Wange. „Und da du mich morgen verlassen möchtest, ist es nur recht und billig, wenn du all deine gelesenen Bücher bis dahin wieder an den richtigen Platz gestellt hast. Sollte ich ein falsch platziertes Buch finden, egal wann, werde ich mir etwas sehr Unangenehmes für dich ausdenken.“
Er erhob sich.
„Ich bringe dich fort, sobald das letzte Buch seinen Platz eingenommen hat.“
Dann war er verschwunden.
Selina schloss die Augen. Offenbar hatte sie sich geirrt.
Sie hasste ihn doch. Und zwar aus tiefster Seele.
Das Problem war: Sie würde ihn ebenso vermissen. Jetzt wusste sie, wie sich Hassliebe anfühlte, und war alles andere als glücklich darüber.
Fayetteville, Arkansas
Selina blinzelte und sah sich neugierig um. Das Tageslicht, das in den Raum fiel, war ungewohnt hell. Noch immer spürte sie Romans Arme um sich, doch er gestattete ihr, sich zu drehen.
Das Zimmer war groß und mit hellen Möbeln ausgestattet. Offenbar diente es als Wohn- und Arbeitszimmer. In einer Ecke sah sie eine kleine Küchenzeile. Durch zwei offene Türen konnte sie ein winziges Bad und einen Schlafraum erkennen.
„Wo sind wir?“, fragte sie angespannt.
„In Fayetteville in Arkansas.“
„In den Staaten?“, staunte Selina. „Warum?“
„Nun, ich vermute mal, dass du wenig Interesse hast, die nähere Bekanntschaft mit Amalie Ahrendt, Vollstreckerin der siebten Stufe zu schließen. Soweit ich weiß, ist sie immer noch auf der Suche nach dir. Die Vereinigten Staaten sind zumindest nicht in der direkten Nachbarschaft.“
„Du hast gesagt, dass sie mich weltweit suchen“, erinnerte sie ihn.
„Stimmt, Spinnenkind, aber da ich mich zur Zeit öfters auf diesem Kontinent aufhalte, fand ich es passend“, lächelte er und drehte sie wieder zu sich.
„Die Wohnung gehört dir. Mach damit, was immer du willst. Auf dem Schreibtisch findest du alles, was du brauchst: Ausweise, Zeugnisse, Sozialversicherungs-Nummer und Kontodaten.“
Sie sah unwillkürlich hin, doch er drehte ihren Kopf wieder zu sich, und seine blauen Augen nahmen sie gefangen.
„Selina Serra, ich entlasse dich jetzt in dein eigenes Leben. Deine Ausbildung ist abgeschlossen, die Schonzeit vorbei. Ab jetzt bist du für dich selbst verantwortlich. Erwarte nicht, dass ich dir aus selbstverursachten Schwierigkeiten helfe. Beweise mir erst, dass die Jahre, die ich in dich investiert habe, nicht umsonst waren. Ich habe dir alles beigebracht, was du in den beiden Welten zum Überleben wissen musst. Nutze dieses Wissen gut. Und vermeide es, mich zu verärgern. Dein Welpenschutz ist vorbei.“
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