Mit den Tieren stand er auf fast ebenso vertrautem Fuße. Hören wir, was Emerson darüber sagt: „Thoreau konnte unbeweglich stundenlang auf einem Felsen sitzen bleiben, bis die Tiere, die vor ihm geflohen waren, Vogel, Reptil oder Fisch, zurückkehrten und ihre Gewohnheiten wieder aufnahmen, ja, von Neugier getrieben, näher kamen, um ihn zu beobachten.“ Wir würden es kaum glauben, wenn nicht Emerson es wäre, der weiterhin sagt: „Schlangen wanden sich um seine Beine, die Fische schwammen auf ihn zu, und ließen sich von ihm aus dem Wasser nehmen, die Vögel setzten sich auf seine Schultern (oder auf das Holz, das er in seinen Armen zur Hütte trug) und Eichhörnchen liefen ihm über die Füße, wenn das gerade der nächste Weg war.“ Die Erde war für ihn kein Gegenstand kalter Beobachtungen, sondern ein großes, lebendes Wesen, und alles, was sie gebar, liebte er. „Gott, ich danke Dir,“ schreibt er in sein Tagebuch, „ich bin Deiner Gnade unwürdig. Und doch ist die Welt für mich vergoldet, hohe Feiertage sind mir bereitet und mit Blumen ist mein Pfad bestreut! O, halte meine Sinne rein!“ ... Die einfachsten Töne waren ihm die schönste Musik. Das Bellen eines Hundes in der Nacht, ja selbst das Summen eines Telegraphendrahtes konnte ihn poetisch inspirieren. Wenn der Sturmwind um seine Hütte brauste, erklangen ihm Symphonien, und wenn vom Dorf her leise die Klänge einer Harmonika zu ihm herüberschallten, war er diesem Spielmann dankbar, weil er fühlte, dass durch dessen Musik seine Existenz vertieft wurde. Man denkt unwillkürlich an Nietzsches Wort: „Wie wenig gehört zum Glücke: Der Ton eines Dudelsacks“ ...
Und doch: zum dauernden Glück bedurfte Thoreau mehr. Vor allen Dingen – Freundschaft. Nach ihr sehnte er sich sein Leben lang. Zahlreiche Stellen in seinem Tagebuch weisen darauf hin. Er will nichts weiter von seinen Freunden „als Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, ein Gran wirklicher Hochachtung, eine Gelegenheit, einmal im Jahre die Wahrheit zu sprechen.“ Und doch – wo waren die Freunde:
„Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit.
Wo bleibt Ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!“
Sie laden ihn zu Gast, doch „sie zeigen sich nicht“. Er „grämt sich, verhungert in ihrer Nähe“. Sie behandeln ihn derart, dass er sich „tausend Meilen weit fort“ fühlt. „Ich verlasse meine Freunde beizeiten. Ich gehe fort von ihnen, und liebkose mein Freundschaftsideal.“ „Wie kommt's,“ ruft er aus, „dass ich immer wieder solch hohe Anforderungen an die Menschheit stelle und so regelmäßig enttäuscht werde? Wissen meine Freunde, wie sehr enttäuscht ich bin? Ist alles mein Fehler? Bin ich zur Großmut, zur Selbstlosigkeit unfähig? Jede andere Anklage könnte ich eher gegen mich erheben!“ „So ungefähr,“ schreibt Thoreau, „würde ich als Freund zum Freunde sprechen: Nie erbat ich Deine Erlaubnis, Dich lieben zu dürfen. Ich besitze das Recht dazu. Ich liebe Dich nicht als etwas Individuelles, das Dir selbst gehört, sondern als etwas Universelles, Liebenswertes, das ich entdeckt habe. O, was für Gedanken ich über Dich hege! Du bist wahrhaft lauter, Du bist unendlich gut. Dir kann ich vertrauen in alle Ewigkeit. Ich wusste nicht, dass des Menschen Seele so reich sei.“ ... Ja, sein Freundschaftsideal fand er wohl selten verwirklicht. Vielleicht nicht einmal ganz in Emerson. 1853 schreibt er in sein Tagebuch: „unterhielt mich oder vielmehr versuchte mich mit R. W. E. zu unterhalten. Verlor Zeit, ja fast meine Identität. Er opponierte dort, wo es gar keine Meinungsverschiedenheiten gab, sprach in den Wind und ich verlor meine Zeit, indem ich versuchte mir einzubilden, nicht ich, sondern irgend ein anderer opponiere ihm.“ Da mochte der Thoreau, der sagte: „Ein Wort soll vom Freund zum Freunde gehen wie der Blitz von Wolke zu Wolke, sich wohl „tausend Meilen fort“ fühlen.
Frauen spielen in Thoreaus Leben keine Rolle. Eine „Jugendliebe“, die von manchen Biographen ausführlicher geschildert wird, ist ebenso uninteressant wie unbewiesen. Mit einem jungen Mädchen sich nur deshalb eine halbe Stunde lang zu unterhalten, weil sie „regelmäßige Gesichtszüge“ hatte, erschien ihm ebenso zwecklos wie der Besuch von Gesellschaften. Er liebte es, allein zu sein: „Der ist ein reicher Mann und genießt die Früchte des Reichtums, der immerdar im Sommer und Winter an seinen eigenen Gedanken sich erfreuen kann.“ Seine Einsamkeit, sagt einer seiner Biographen, war Selbstverteidigung ohne Zweifel. Sein Genius konnte so wenig wie Schmetterlingsflügel die Berührung rauer Hände vertragen.“ Doch je mehr er sich in die Natur versenkte und erkannte, welche Leidenschaften in ihr sich offenbarten, desto mehr empfand er, wie etwas Wildes in ihm selbst sich regte. Er fühlte bisweilen den Drang, ein Murmeltier zu ergreifen und roh zu verzehren. „Ich werde wilder von Tag zu Tage,“ steht in einem seiner Briefe, „als ob ich von rohem Fleisch mich nähre, und meine Zahmheit ist nur die Ruhe meiner Unbezähmbarkeit.“ Bisweilen sehnt er sich danach, in einer entlegenen Sohle drei Wochen in Kälte und Nässe während eines Sturmes zu sitzen, um seinem Organismus Spannkraft zu geben. Indianer, halbwilde Irländer und Jäger besaßen stets seine Vorliebe. Diese Wildheit war, wie seine Widerspenstigkeit und seine revolutionäre Gesinnung, ein Erbteil französischen Blutes, während in seiner Ehrlichkeit, in der Verachtung jeder Konvention und in seiner Wahrheitsliebe das puritanische Element zum Vorschein kam.
Seiner Familie war er von Herzen zugetan. Kinder liebte er bis zu seinem Todestage. Oft zogen sie in Scharen mit ihm in Wälder und Felder zum Heidelbeersuchen hinaus, und dann wusste der Einsiedler und Philosoph Töne anzuschlagen, die unmittelbar in der Kinder Herzen drangen. Auch hier zeigte sich der einfache Mann als tiefer Psychologe.
Ja, nichts Menschliches war ihm fremd. Er liebte das Leben, die Mutter Erde und all ihre Bewohner. „Die Natur,“ sagt er, „hat keinen menschlichen Einwohner, der sie zu schätzen weiß. Der Vögel Gefieder und Gesang harmonieren mit den Blumen. Doch welcher Jüngling, welches Mädchen versenkt sich mit Inbrunst in die wilde, wonnige Schönheit der Natur? Sie blüht meistens im Verborgenen, fern von den Städten, wo die Menschen wohnen. Schwätzt vom Himmel – Ihr entweiht die Erde!“
Zu dieser Skizze wurden benutzt: Salt: Life of H. D. Thoreau; Stevenson: Familiar Studies of men and books; Lowell: Literary Essays; Thoreau: Letters to various persons; Page: Thoreau, his Life and Aims; Channing: The Poet Naturalist; Burroughs: Literary Values and other papers; Knortz: Geschichte der nordamerikanischen Literatur; Annie Russell Marble: Thoreau and his Friends; Alcott: Concord days; Torrey: Thoreau as a Diarist. (Atlantic Monthly)
St. Louis, Mo., Januar 1905
Wilhelm Nobbe
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