Aber plötzlich habe die Alte ihre Hände zum Himmel emporgehoben, und ihr Gesicht habe vor Freude gestrahlt.
Und eine Stimme habe laut verkündigt:
»Die Riesen von Hånger sind von ihrem Fluch erlöst!«
Und im selben Augenblick sei die alte Wächterin tot zu Boden gesunken, der Torpfosten sei umgefallen, ein Haus nach dem anderen sei eingestürzt, und da habe sie, Lotta Hedman, es gemerkt: jetzt war die endgültige Befreiung da, und nun werde ihr der Hof nie mehr erscheinen.
Jung-Joel
Jeder Mensch weiß, wie merkwürdig es einem mit Gedanken gehen kann. Es ist, als würden sie von einer unsichtbaren Hand über die Erde ausgestreut. Und da geht man wohl umher und meint, man habe etwas ganz Besonderes und Schönes gefunden und ist stolz und froh, bis man merkt, daß derselbe Gedanke gleichzeitig in vielen hundert anderen Köpfen aufgetaucht ist.
So ging es mit Pfarrer Rhånges Gedanken über die Heiligkeit des Lebens. Er war keineswegs der einzige, der sich damit beschäftigte. – – –
Es war im Juni, zu jener Zeit des Jahres, wo man in Bohuslän, oder vielleicht besser gesagt, in den Küstenorten und Schären von Bohuslän Gäste erwartete.
Überall war man eifrig beschäftigt gewesen, alles für ihren Empfang herzurichten. Die Leute hatten ihre Häuser und Boote frisch angestrichen, ihre Zimmer geputzt, ihre Anpflanzungen gesäubert, ihre Badehäuser geheizt und ihre Bassins gereinigt; und jetzt begannen auch die Eisenbahnzüge, voll von Gästen aus allen Richtungen des Landes, anzukommen. Da kamen Krüppel und Überanstrengte, Scharen von Kindern und Scharen von alten Leuten, solche, die Ruhe, und solche, die Zerstreuung haben wollten. Und es war, als sei ganz Schweden auf dem Weg nach den kahlen Schären und dem unfreundlichen atlantischen Meer.
Aber alle diese Gäste, auf deren Empfang man sich vorbereitet hatte, erwartete man von Osten, vom Lande her. Von Westen, vom Meere, wurden keine Fremden erwartet. Zu ihrem Empfang hatte man keine Vorbereitungen getroffen. Von dieser Seite war weder eine Anfrage noch eine Bestellung eingetroffen.
Wenn aber nun trotzdem Gäste aus dem Westen eintrafen, so konnte ihr Empfang nicht derselbe sein, wie der, der den von der Landseite Kommenden bereitet wurde. Denn durch sie entstand Jammer und Verwirrung und Traurigkeit, aber keine Freude.
Als die erste Woche des Juli im Jahr 1916 vorüber war, mußte Sven Elversson dieser Gäste wegen eine Reise nach Applum antreten. Sein Bruder, Jung-Joel, der in den letzten Jahren Seemann gewesen war und sich zu Frachtfahrten nach Holland verpflichtet hatte, war krank und verstört nach Knapefjord heimgekommen, nachdem ihm auf dem Meer eine Anzahl von denen begegnet war, die sich noch auf der Reise befanden, und er hatte zu seiner jungen Frau gesagt, sie solle seinen Bruder herbeischaffen, er müsse ihn durchaus sprechen.
Als Sven Elversson zu Jung-Joel kam, wanderte dieser in der kleinen Kammer hinter der Küche, in die das junge Ehepaar alle seine guten Möbel hineingestellt hatte und die sonst niemals benutzt wurde, ruhelos auf und ab. Er sah bleich und abgespannt aus, war aber nicht eigentlich krank. Seine Augen hatten rote Ränder und sahen aus, als könne er sie kaum noch offen halten, aber Jung-Joel fand keine Ruhe, wollte sich weder setzen noch hinlegen.
»Nun, wie geht es dir, Jung-Joel?« fragte Sven Elversson.
Jung-Joel beantwortete weder diese Frage, noch gab er sich sonstwie den Anschein, als ob er den Bruder bemerkt habe. Unermüdlich setzte er seine Wanderung fort und fuchtelte dazwischen mit den Armen in der Luft herum.
»Ja, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« sagte er.
»Wenn man ihn nur irgendwie zum Schlafen überreden könnte,« flüsterte seine Frau. »Aber er wagt es nicht, sich hinzulegen, wagt die Augen nicht zuzumachen. Er läuft nur unaufhörlich auf und ab.«
»Nein, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« wiederholte Jung-Joel, und noch einmal schlug er mit den Armen abwehrend um sich.
»Jung-Joel,« begann Sven Elversson, indem er versuchte, mit ihm von etwas längst Vergangenem zu sprechen, um ihn von dem, was ihn jetzt quälte, abzulenken. »Erinnerst du dich noch daran, wie du mit der Besatzung der Najade nach der Grimö hinauskamst, um mich zu zwingen, eine Schlange zu essen?«
Und wirklich! Jung-Joel hielt mitten in seiner Wanderung inne.
»Du bist da, Sven?« sagte er, während ihm die Tränen aus den müden Augen stürzten. »Wie gut, daß du gekommen bist! Nun kann ich dich doch um Verzeihung bitten, ehe ich verrückt werde.«
»So darfst du nicht reden,« erwiderte Sven Elversson.
Aber nun begann Jung-Joel zu erzählen.
Kurz nach der großen Nordseeschlacht war er an Skagen vorübergefahren und hatte dort die unzähligen Toten an der Oberfläche des Meeres dahintreiben sehen. Sie hatten nicht starr ausgestreckt im Wasser gelegen, sondern waren von ihren Korkwesten in aufrechter Stellung gehalten worden. Ihre Köpfe hatten über das Wasser herausgeragt, so daß man sogar die Gesichtszüge und den Ausdruck darauf hatte unterscheiden können.
Und weiter berichtete Jung-Joel, stundenlang sei der Dampfer durch Tausende und aber Tausende von Toten hindurchgefahren. Das ganze Meer sei von ihnen bedeckt gewesen.
Er schilderte dem Bruder, wie entsetzlich der Anblick dieser Toten gewesen sei, unbeschreiblich entsetzensvoll sei er gewesen; aber eins habe ihn doch am allermeisten erschüttert: allen den Toten seien von den unzähligen Scharen von Möwen, die über den Leichen kreisten, die Augen ausgehackt gewesen.
»Weißt du, was der zweite Steuermann tat?« fragte er. »Als er das Furchtbare eine Weile betrachtet hatte, machte er die Augen zu und sprang über Bord, und wir sahen ihn nicht wieder. Er wußte, daß er das Leben nicht mehr ertragen könnte, nachdem er das gesehen hatte. Und ich – ich wollte, ich hätte es gerade so gemacht wie er.«
»Nein, so darfst du nicht denken, Joel!« sagte Sven Elversson.
»Aber dies Entsetzliche hat sich mir so unauslöschlich eingeprägt, daß ich es immer vor mir sehe, sobald ich nur für eine Sekunde die Augen schließe,« fuhr Joel fort. »Ich wage nicht, mich hinzulegen, sondern muß Tag und Nacht aufbleiben, damit mir die Augen nicht zufallen.«
»Du mußt versuchen, an etwas anderes zu denken,« mahnte Sven Elversson. »Du hast doch Frau und Kind.«
»Ich will dir sagen, was wir taten,« sagte Jung-Joel. »Wir holten ein paar Gewehre, die sich an Bord befanden, und begannen auf die Möwen zu schießen. Auf diese Weise konnten wir doch an irgend etwas unseren Grimm auslassen, und ich glaube, das hat uns gerettet.
Aber sonst war das ein törichtes Tun. Denn was für eine Schuld hatten die Möwen? Und was bedeutet das, was Toten angetan wird, im Vergleich zu dem, was man Lebenden antut? Siehst du, das wollte ich dir sagen, Sven. Wenn ich bedenke, wie die Menschen miteinander umgehen – daß durch ihre Schuld Zehntausende von jungen Männern tot im Meere liegen – dann kann ich nur weinen und mich schämen.
Und früher, Sven, das weiß ich, da hab' ich mich oft über dich erhoben und mich für besser gehalten als dich. Aber jetzt bitte ich dich deshalb um Verzeihung. Ich, der dachte, du und deine Kameraden, ihr hättet schlecht an einem Toten gehandelt, ich habe nie etwas getan, um einem lebenden Menschen zu helfen.«
»Natürlich hast du das getan, Joel,« sagte der Bruder.
»Nein,« antwortete Joel weinend, und plötzlich trat er näher und kniete neben dem gepolsterten, mit vielen Deckchen geschmückten Lehnstuhl nieder, auf dem Sven Elversson Platz genommen hatte. »Ich habe nie jemand geholfen, weder den Eltern noch sonst jemand auf der weiten Welt. Und deshalb sieht es so schlecht in der Welt aus.«
»Ja, aber es wird besser werden, Jung-Joel,« sagte Sven Elversson, indem er dem Bruder sanft übers Haar strich. »Du kannst mithelfen, daß es besser wird.«
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