Sie hatte eifrig gesprochen, beseelt, ganz hingenommen von dem Wunder, das, wie sie meinte, hier hereinspielte. Aber in ihrer Stimme fand sich keine Spur von Leidenschaft. Der Lauscher hinter der Hecke bemerkte das wohl. Sigrun sprach zu dem Manne, der sie liebte, in der festen Überzeugung, daß dieser Mann sehr gut begriff, daß sie ihn nicht wiederliebte.
Sven Elversson fühlte dasselbe. Seine Stimme klang verschleiert vor Bewegung, aber sie nahm keinen leidenschaftlichen Ton an.
»Gut. Da Sie es so wünschen, reden wir wie Lotta Hedman! Aber wenn die Seele der Verstorbenen Sie hierhergesandt hat, könnte es nicht ebensogut zur Plage und Strafe gewesen sein? Sie wußte ja, daß meine Liebe dadurch nur zunehmen würde, wie sie auch wußte, daß Sie mich niemals lieben würden.«
»Ja,« sagte Sigrun mit demselben besonderen Tonfall höchster Begeisterung, beinahe als spräche sie zu einem Bewohner der anderen Welt. »Natürlich wußte sie das. Und noch etwas wußte sie: wenn nicht etwas in Ihnen gewesen wäre, das Sie vor jeder anderen Liebe als der ihrigen schützte, hätten Sie mir nicht erlaubt, hier auf Hånger zu bleiben. Aber sie meinte vielleicht, Ihr eigenes Leben werde schöner und glücklicher, wenn Sie mich lehren könnten, wie ein Leben gelebt werden müsse. Nicht wahr, auch das könnte ihre Absicht gewesen sein? Später, wenn Sie alt sind, wenn all das Brennende und Verzehrende verkühlt ist, da werden Sie an diesen Winter auf Hånger als an eine Zeit des Glückes zurückdenken.«
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Nicht jetzt schon,« sagte sie, »aber später, und dann bis zu Ihrer letzten Stunde. Sehen Sie, ich glaube, es ist, wie ich vorhin gesagt habe, Sie sollten mich lehren, wie ein Leben gelebt werden muß, das war ihre Absicht. Was war ich vor einigen Monaten, ehe ich hierher kam? Ich war nicht böse, ich wollte jedermann wohl, aber ich war ängstlich; ich versuchte wohl, recht zu tun, aber ich tat es nur so aufs Geratewohl. Ich hatte keinen festen Lebensplan. Ich wußte nicht, daß es möglich ist, unter allen Umständen gut zu bleiben, wahr, treu und barmherzig zu sein. Das ist's, was ich hier bei Ihnen lernen sollte! Abscheu vor allem, was die Seele beschmutzt. Das werde ich mit mir nehmen in meine Heimat und zu meinem Manne. Er soll sehen, daß ich eine andere geworden bin, und er soll größeres Vertrauen in mich setzen denn zuvor. Jetzt werden wir glücklich sein, und Sie sind es, dem wir unser Glück verdanken. Und Sie sollen oft an uns denken und sich freuen.«
Er ergriff eine von ihren Händen, neigte sein Gesicht darüber und weinte.
»Morgen, wenn Eduard hierher kommt,« sagte sie, »werde ich ihm das alles sagen, und er wird es verstehen und Ihnen danken.«
Da richtete er sich ganz entsetzt auf.
»Wie, soll auch er...«
»Jawohl,« sagte sie. »Ich werde ihm sagen, daß Sie mich lieben, und er soll erfahren, wie sehr die Tote Sie geliebt hat. Ich werde ihm alles sagen. Es dürfen keine Unklarheiten und Geheimnisse mehr zwischen uns sein, das werden Sie verstehen. Er soll erfahren, wie ich das Geheimnis der Liebe gelernt habe. Ich werde ihm sagen, daß die Liebe nicht nach Gelöbnissen und Vorschriften fragt, denn sie kennt nur ihr eigenes Gesetz. Sie kennt nur eine Rücksicht, die Rücksicht auf das geliebte Wesen. Sie geht, wenn sie sieht, daß sonst das Leben für das geliebte Wesen zu schwer ist. Und ich will hier auf Hånger mit Eduard davon reden, hier auf dem Hofe seiner Vorfahren, in dieser Natur, die großzügig und weich zu gleicher Zeit ist. So kann auch Eduard sein, großzügig und weich zugleich.«
Der Mann, der hinter der Hecke horchte, machte eine Bewegung. Er schämte sich, weil er die beiden ausspionierte. Er wollte hervortreten und offen und aufrichtig mit Sigrun und mit dem Manne reden, der Sigrun liebte und es versuchte, sie zu trösten und ihr Mut einzuflößen, jetzt, wo sie ihn verlassen mußte.
Aber als er nun den Weg überschaute, den er zurückzulegen hatte, wenn er zu ihnen gelangen wollte, da entdeckte er, daß sich aus einem Steinhaufen gerade vor ihm ein alter Torpfosten erhob.
Ein Tor war nicht mehr vorhanden und auch nicht der zweite dazugehörige Pfosten auf der anderen Seite. Einsam stand er da, morsch, dem Umfallen nahe und schon mit einer Menge Stützen, die ihn aufrecht hielten, ringsum gestützt.
Der Pfarrer stutzte. Er hatte den Pfosten bis jetzt noch nicht gesehen, aber er hatte seine Aufmerksamkeit auch noch nicht auf diese Seite gerichtet. Zuerst war er überzeugt, dies alles sei nur eine Augentäuschung, und es sei gar kein Pfosten vorhanden, dann dachte er, der Pfosten könne ja als eine Art Merkwürdigkeit erhalten worden sein.
Aber während er sich den Pfosten betrachtet hatte, war der günstige Augenblick zum Hervortreten verstrichen.
Die Zwiesprache zwischen den beiden war weitergegangen. Sigrun hatte sich jetzt einem neuen Gesprächsgegenstand zugewendet.
»Ist es möglich,« sagte sie, »daß Sie eigentlich gar nicht wissen, wie alles zugegangen ist? Mutter Thala hat mir gesagt, Sie hätten im Fieber gelegen und seien gar nicht bei Bewußtsein gewesen, und Sie könnten sich durchaus an nichts erinnern.«
Sven Elversson schwieg.
»Sie wollen mir nicht gestatten, daran zu rühren, und das begreife ich wohl,« sagte Sigrun. »Aber ich möchte doch gerne mit Ihnen darüber reden. Bedenken Sie, morgen werde ich nicht mehr hier sein.«
»Natürlich war ich mit dabei beteiligt,« sagte Sven Elversson. »Aber ich war so krank, daß ich mich an nichts mehr erinnere. Nachher hörte ich die anderen von dem reden, was geschehen war, und ich machte ihnen Vorwürfe. Da antwortete man mir, ich hätte gar nichts zu sagen, denn ich sei auch mit dabei gewesen. Und da erinnerte ich mich, daß sie mich gezwungen hatten, auch...«
Das hatte er mit unerhörter Anstrengung gesagt. Die Worte quälten sich gleichsam nur über seine Lippen. Den Schluß des Satzes brachte er nicht heraus.
»Sie haben sich nur eingebildet, Sie könnten sich erinnern,« sagte Sigrun. »Sie müssen doch einsehen, wie unmöglich es ist, daß Sie das getan haben. Sie wären lieber gestorben.«
»Ich hab' es getan. Denken Sie nichts anderes.«
»Doch!« erklärte Sigrun. »Das tu' ich, und Sie sollen das wissen. Die ganze Zeit über, die ich unter Ihrem Dach geweilt habe, war ich überzeugt davon, daß dies nicht wahr ist. Niemand, der Sie kennt, wird es glauben.«
Sven Elversson beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Mit großer Einfachheit und mit großem Ernst sagte er: »Sie sind heute abend sehr gut gegen mich gewesen, das fühle ich deutlich. Ich kann Ihnen für diese Stunde nie genug danken.«
Sie erfaßte den Sinn seiner Worte und stand davon ab, diesen schwierigen Gesprächsgegenstand noch weiter zu verfolgen.
»Aber Sie werden mir doch wenigstens erlauben, Ihnen für die Monate, die ich hier auf Hånger zugebracht habe, zu danken? Ich werde an diesen Ort immer als an eine wahre Heimstätte der Menschenliebe zurückdenken. Mein eigenes Heim möchte ich nach Ihrem Vorbild einrichten.«
»Warten Sie damit bis morgen!« bat er.
Sie stand auf.
»Ach, gehen Sie noch nicht! Es ist der letzte Abend.«
»So lesen Sie mir noch ein wenig aus Snoilsky vor!«
Er schlug das Buch auf, machte es dann aber wieder zu.
»Es ist zu dunkel.«
»Dann sagen Sie mir etwas davon auswendig her! Zum Beispiel den ›Sang an Sigrun‹ von Bjarne Thorarensen! Darum hab' ich Sie schon oft bitten wollen, hab' es aber bisher nie gewagt.«
Sven Elversson machte eine abwehrende Bewegung.
»Morgen bin ich fort,« mahnte sie mit einem geradezu unwiderstehlichen Klang in der Stimme.
Und er begann wirklich das leidenschaftliche Gedicht des isländischen Dichters vorzutragen, in dem dieser die Geliebte anfleht, ihn nicht zu verlassen, selbst wenn sie stürbe und in die glanzumwobenen Wohnungen des Himmels käme. »Glaub' nicht, daß ich die tote Braut nicht küssen möchte!« klang das Lied. »Glaub' nicht, daß ich die Hand nicht wollte legen wohl um die Totenblasse dort im Leichenhemd!«
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