Auch die Israelitin sah kummervoll aus und sprach mit tiefem Ernst zu Faustina:
»Gebieterin, zögere nicht den aufzusuchen, den Du finden möchtest! Ich fürchte, daß ihn ein Unglück heimgesucht hat, denn seine Jünger sind so von Sinnen, daß sie es nicht ertragen können, von ihm auch nur reden zu hören.«
Faustina ritt mit ihrem Gefolge endlich durch das Torgewölbe. Sie kamen durch enge, düstere Gassen, in denen es von Menschen wimmelte. Es schien fast unmöglich, dort vorwärts zu kommen. Mal auf mal mußten die Reitenden ihre Pferde anhalten. Die Sklaven und die Kriegsknechte bemühten sich vergeblich, den Weg frei zu machen. Die Menschen drängten sich unaufhörlich in einem dichten, unhemmbaren Strome vorbei.
»Wahrhaftig,« sprach die Greisin zu Sulpicius, »Roms Straßen sind im Vergleich mit diesen Gassen stille, ruhige Gärten zu nennen.«
Sulpicius erkannte bald, daß fast unüberwindliche Schwierigkeiten ihrer warteten, und sagte:
»Man wird in diesen überfüllten Straßen wohl leichter gehen als reiten können. Vorausgesetzt, daß Du nicht gar zu müde bist, würde ich Dir raten, bis zum Palast des Landpflegers zu Fuß zu gehen. Zwar ist es eine weite Strecke, wenn wir aber reiten sollen, so werden wir ganz gewiß nicht vor Mitternacht hingelangen.«
Faustina war sofort einverstanden. Sie stieg vom Pferde und übergab es einem der Sklaven. Dann begannen die Römer insgesamt ihre Fußwanderung durch die Stadt.
Sie gelang ihnen weit besser. Ziemlich rasch drangen sie bis zum Herzen der Stadt vor, und eben zeigte Sulpicius Faustina eine halbwegs breite Straße, die sie bald erreichen mußten.
»Sieh, Faustina, wenn wir nur erst in diese Straße gelangen, so ist es überstanden, denn sie führt uns gerade nach unserer Herberge.«
Aber als sie eben in diese Straße einbiegen wollten, stießen sie auf das ärgste Hindernis.
Denn in demselben Augenblick, da Faustina an der Straße war, die sich vom Palast des Landpflegers bis zur Pforte der Gerechtigkeit und bis nach Golgatha hinzog, geleitete das Volk dort einen Gefangenen, der hinausgeführt wurde, um ans Kreuz geschlagen zu werden. Eine Schar junger, erregter Menschen raste vor ihm her. Sie stürmten wild durch die Straße, sie streckten wie in Begeisterung die Arme empor und stießen ein unverständliches Freudengebrüll aus, weil sie bald etwas sehen sollten, was sich ihnen nicht jeden Tag darbot.
Ihnen folgten Scharen von Menschen in Seidengewändern. Sie schienen zu den vornehmsten und höchsten Personen der Stadt zu gehören. Hinter ihnen schritten Frauen, von denen viele bitterlich weinten. Eine Gruppe von Bettlern und Krüppeln stieß ein ohrenzerreißendes Geschrei aus. Die Verzweifelten riefen:
»O Gott! Rette ihn! Sende Deine Engel herab und errette ihn! Sende ihm einen Helfer in seiner bittersten Not!«
Endlich nahten einige römische Söldner auf großen Pferden. Sie wachten darüber, daß keiner aus der Volksmenge zu dem Gefangenen stürze und ihn zu befreien versuche. Gleich hinter ihnen kamen die Henkersknechte, die den Mann geleiten mußten, der gekreuzigt werden sollte. Sie hatten ihm ein großes, schweres Holzkreuz auf die Schultern geladen, er aber war zu schwach für diese Last. Sie drückte ihn so, daß sein Körper sich darunter tief zum Boden niederbeugte. Sein Haupt war so tief gesenkt, daß niemand sein Antlitz erkennen konnte.
Faustina stand am Eingang der kleinen Nebengasse und sah der schweren Wanderung des zum Tode Verurteilten zu. Staunend gewahrte sie, daß er einen Purpurmantel trug und eine Dornenkrone auf sein Haupt gedrückt worden war.
»Wer ist der Mann?« fragte sie.
Einer der Umstehenden antwortete ihr: »Das ist einer, der sich zum Kaiser machen wollte.«
»So muß er den Tod für etwas erleiden, das wenig erstrebenswert ist,« sprach die Greisin wehmütig.
Der Verurteilte wankte unter dem Kreuze. Seine Schritte wurden immer langsamer. Die Henkersknechte hatten einen Strick um seinen Leib geschlungen und begannen daran zu zerren, um ihn schneller vorwärts zu treiben. Als sie aber den Strick fester anzogen, sank der Mann um und blieb mit dem Kreuze über sich liegen.
Da entstand ein gewaltiger Lärm. Die römischen Reiter vermochten nur mit großer Mühe das Volk zurückzuhalten. Sie zogen ihre Schwerter gegen einige Frauen, die vorzudringen suchten, um dem Niedergesunkenen beizustehen. Die Henkersknechte wollten ihn mit Schlägen und Stößen zwingen, sich zu erheben, er aber vermochte es nicht des Kreuzes wegen. Schließlich packten einige von ihnen das Kreuz an, um es aufzuheben.
Da richtete er sein Haupt empor, und die greise Faustina sah sein Antlitz. Die Wangen zeigten Striemen von den Schlägen, und von seiner durch die Dornenkrone verwundeten Stirn perlten Blutstropfen herab. Das Haar hing, klebrig von Schweiß und Blut, in wirren Strähnen um sein Haupt. Seine Lippen waren fest geschlossen, bebten jedoch, als kämpften sie, um einem Schrei zu wehren. Die Augen starrten, von Tränen erfüllt, fast erloschen vor Qual und Erschöpfung.
Doch unter dem Angesicht dieses halbtoten Menschen sah die Greisin wie in einer Vision ein schönes, bleiches Antlitz mit herrlichen, majestätischen Augen und sanftmütigen Zügen, und ihr Herz erbebte plötzlich in Trauer und Rührung über des fremden Mannes Unglück und Erniedrigung.
»O, was hat man Dir getan, Du armer Mensch?« rief sie aus und trat ihm einen Schritt entgegen, während ihr Tränen in die Augen traten. Bei dieses gepeinigten Menschen Not vergaß sie ihren eigenen Gram und ihre Unruhe. Ihr wollte schier das Herz vor Mitleid brechen. Gleich den anderen Frauen wollte sie hineilen, um ihn seinen Henkern zu entreißen.
Der Hingesunkene sah, daß sie auf ihn zukam, und er kroch näher an sie heran. Es war, als ob er erwartet hätte, bei ihr Schutz zu finden gegen alle jene, die ihn verfolgten und peinigten. Er umklammerte ihre Kniee. Er schmiegte sich an sie, wie ein Kind, das bei seiner Mutter Rettung sucht.
Die Greisin beugte sich über ihn, und obwohl ihre Tränen strömten, empfand sie die seligste Freude darüber, daß er schutzflehend zu ihr gekommen war. Mit einem Arm umfaßte sie seinen Nacken, und so wie eine Mutter vor allem die Tränen ihres Kindes trocknet, legte sie ihr Schweißtuch von kühlem feinsten Linnen auf sein Angesicht, um die Tränen und das Blut fortzuwischen. Aber in diesem Augenblick hatten die Henkersknechte das Kreuz aufgehoben. Und nun kamen sie und rissen den Gefangenen an sich. Ungeduldig über die Verzögerung, schleppten sie ihn in wilder Hast fort. Dem Todgeweihten entrang sich ein Stöhnen, als man ihn von der eben gefundenen Freistatt fortriß, aber er leistete keinen Widerstand.
Faustina umklammerte ihn, um ihn zurückzuhalten, und als sie erkannte, daß ihre schwachen, alten Hände nichts vermochten, und ihn erbarmungslos fortführen sah, da überkam sie eine Empfindung, als hätte ihr jemand ihr eigenes Kind geraubt, und sie rief: »Nein, nein! Nehmt ihn mir nicht fort! Er darf nicht sterben! Es kann nicht sein, daß er sterben soll!«
Sie empfand den furchtbarsten Schmerz und Zorn, weil man ihn fortführte. Sie wollte ihm nach und mit den Henkersknechten kämpfen, um den Unglücklichen zu befreien. Aber bei dem ersten Schritt wurde sie vor Schwindel fast ohnmächtig. Sulpicius beeilte sich, sie mit seinem Arm zu stützen, um sie vor dem Umsinken zu bewahren.
Er bemerkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen kleinen, dunkeln Laden und trug sie hinein. Es gab dort weder Stühle noch Bänke, aber der Ladenbesitzer war barmherzig. Er holte einen Teppich herbei und bereitete für die Greisin ein Lager auf dem Steinboden. Sie war nicht bewußtlos, hatte aber ein so heftiges Schwindelgefühl, daß sie sich nicht aufrecht erhalten konnte, sondern sich niederlegen mußte.
»Sie hat heute einen langen Ritt hinter sich, und der Straßenlärm und das Gedränge waren zuviel für sie,« sagte Sulpicius zu dem Kaufmann. »Sie ist sehr alt, und so stark ist doch niemand, daß ihn das Alter nicht bezwingen könnte.«
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