Faustina dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich freue mich, daß wir gerade an dem Tage in diese Stadt gekommen sind, wo das Volk seinen Feiertag begeht. Es ist das beste Zeichen, daß die Götter unserem Vorhaben gnädig sind. Bist Du nicht auch der Meinung, daß er , den wir suchen, der Prophet aus Nazareth, höchstwahrscheinlich auch nach Jerusalem gekommen ist, um an diesem Fest teilzunehmen?«
»Du hast recht, Faustina,« antwortete der Römer. »Er ist wahrscheinlich schon jetzt hier in Jerusalem. Das ist fürwahr eine göttliche Fügung. So kräftig und gesund Du auch bist, sollst Du Dich doch glücklich preisen, daß Du die lange und beschwerliche Wanderung nach Galiläa wohl unterlassen kannst.«
Er ritt sogleich auf einige Wanderer zu, die eben vorbeizogen, und fragte sie, ob sie glaubten, daß der Prophet aus Nazareth sich in Jerusalem aufhalte.
»Wir haben ihn alljährlich um diese Zeit dort gesehen,« antwortete einer der Wandernden: »Sicherlich ist er auch in diesem Jahr gekommen, denn er ist ein frommer und gerechter Mann.«
Ein Weib streckte die Hand aus, wies auf einen östlich von der Stadt gelegenen Berg hin und sprach: »Siehst Du dort den mit Olivenbäumen bewachsenen Bergabhang? Dort pflegen die Galiläer ihre Zelte aufzuschlagen, und dort wirst Du die sicherste Auskunft über ihn erhalten, den Du suchest.«
Sie zogen weiter, gelangten auf einem gewundenen Wege nach dem Talkessel hinunter und ritten dann den Berg Zion hinauf, um die Stadt auf seinem Gipfel zu erreichen. Der steil emporführende Weg war hier an beiden Seiten von niedrigen Mauern begrenzt, und auf diesen hockten und lagen zahllose Bettler und Krüppel, welche die Barmherzigkeit der Vorübergehenden anriefen.
Während des langsamen Aufstiegs trat eine der jüdischen Frauen auf Faustina zu und sprach, indes sie ihr einen auf der Mauer hockenden Bettler zeigte: »Sieh, dort sitzt ein galiläischer Mann. Ich entsinne mich, ihn unter den Jüngern des Propheten gesehen zu haben. Der wird Dir sagen, wo Du ihn finden kannst, den Du suchest.«
Faustina ritt mit Sulpicius auf jenen Bettler zu. Es war ein armer, alter Mann mit einem langen, halb ergrauten Bart. Sein Gesicht war von Hitze und Sonnenglut tief gebräunt, und seine Hände zeigten Arbeitsschwielen. Er verlangte nicht nach Almosen; er war so tief in kummervolle Gedanken versunken, daß er nicht einmal zu den Vorüberziehenden aufblickte.
Er vernahm es auch gar nicht, daß Sulpicius ihn anredete, so daß dieser seine Frage einigemal wiederholen mußte.
»Mein Freund, man sagte mir, Du seiest ein Galiläer. Daher bitte ich Dich, mir zu sagen, wo ich den Propheten aus Nazareth finden kann.«
Der Galiläer schrak heftig zusammen und blickte verstört umher. Als er jedoch endlich verstand, was man von ihm wollte, packte ihn ein mit Entsetzen gemischter Zorn. »Was redest Du?« schrie er ihm zu. »Warum fragst Du mich nach jenem Manne? Ich weiß nichts von ihm. Ich bin kein Galiläer.«
Nun mischte sich das jüdische Weib ins Gespräch: »Ich sah Dich doch in seiner Gesellschaft. Fürchte Dich nicht, sondern sage dieser vornehmen Römerin, die des Kaisers Freundin ist, wo sie ihn am schnellsten finden kann!«
Der entsetzte Jünger wurde jedoch immer heftiger und schrie: »Sind denn heute alle Menschen toll geworden? Ist ein böser Geist in sie gefahren, daß sie alle auf einmal kommen, um mich nach jenem Manne zu fragen? Warum will mir denn keiner glauben, wenn ich es doch versichere, daß ich diesen Propheten gar nicht kenne? Ich komme nicht aus seiner Gegend. Ich habe ihn noch niemals gesehen.«
Sein Ungestüm zog die Aufmerksamkeit auf ihn hin, und einige Bettler, die neben ihm auf der Mauer saßen, widersprachen ihm gleichfalls:
»Du gehörtest ganz sicherlich zu seinen Jüngern. Wir alle wissen, daß Du mit ihm aus Galiläa gekommen bist.«
Aber der Mann erhob beide Arme gen Himmel empor und rief: »Ich konnte es heute drinnen in Jerusalem um jenes Mannes willen nicht mehr aushalten, und nun läßt man mich nicht einmal hier draußen inmitten der Bettler in Frieden. Warum wollt Ihr es mir nicht glauben, wenn ich sage, daß ich ihn nie gesehen habe?«
Faustina wandte sich mit einem Achselzucken ab und sprach: »Laß uns weiterziehen. Dieser Mann ist wahnsinnig. Von ihm werden wir nichts erfahren können.«
Sie zogen weiter bergaufwärts. Als Faustina kaum zwei Schritte vom Stadttor entfernt war, rief die Israelitin, die ihr zur Auffindung des Propheten hatte verhelfen wollen, sie möge sich in acht nehmen. Sie zog die Zügel an und sah, daß dicht vor den Hufen ihres Pferdes ein Mann am Boden lag. Im Staube war er hingestreckt, wo das Gedränge am dichtesten war, und es war ein Wunder, daß er nicht längst von Tieren oder Menschen niedergetreten worden war.
Der Mann lag auf dem Rücken und starrte mit erloschenen, glanzlosen Augen zum Himmel empor. Er lag regungslos, obwohl die Kamele ihre schweren Füße dicht neben ihm auf den Boden setzten. Er war armselig gekleidet und obendrein mit Staub und Erde befleckt. Dazu hatte er so viel Sand über sich gebreitet, daß es den Anschein gewann, als suche er sich zu verbergen, um leichter überritten oder zerstampft zu werden.
»Was bedeutet das? Warum liegt dieser Mann hier auf dem Wege?« fragte Faustina.
Alsogleich begann der am Boden Liegende den Vorüberziehenden zuzurufen: »Brüder und Schwestern, bei Eurer Barmherzigkeit, führet Eure Pferde und Lasttiere über mich hin! Weichet mir nicht aus! Zerstampfet mich zu Staub! Ich verriet unschuldig Blut! Zerstampfet mich zu Staub!«
Sulpicius faßte Faustinas Pferd am Zügel und lenkte es beiseite. »Das ist ein Sünder, der Buße tun will,« sagte er. »Laß Dich dadurch nicht länger aufhalten! Dieses Volk ist sehr absonderlich, und man muß diese Menschen ihre eigenen Wege gehen lassen.«
Der Mann am Boden fuhr fort zu rufen: »Setzet Eure Fersen auf mein Herz! Lasset Eure Kamele meine Brust zerstampfen und die Esel ihre Hufe in meine Augen bohren!«
Doch Faustina meinte, nicht vorüberreiten zu können, ohne daß sie versuchte, den Unglücklichen zum Aufstehen zu bewegen. Sie wartete noch immer neben ihm.
Die Israelitin, die ihr schon einmal hatte beistehen wollen, drängte sich nun wieder bis zu ihr hin. »Auch dieser Mann gehörte zu den Jüngern des Propheten,« sagte sie. »Soll ich ihn nach seinem Meister fragen?«
Faustina nickte bejahend. Das Weib beugte sich über den am Boden Liegenden und fragte:
»Was habt Ihr Galiläer denn heute mit Eurem Meister getan? Ich treffe Euch auf Wegen und Stegen zerstreut, ihn aber erblicke ich nirgends.«
Aber während ihrer Frage hob der Mann im Straßenstaube sich auf seine Knie empor. »Welch ein böser Geist hat Dir eingegeben, mich nach ihm zu fragen?« sagte er mit einer Stimme, die in Verzweiflung bebte. »Du siehst doch, daß ich mich in den Straßenstaub geworfen habe, um zertreten zu werden. Ist Dir das noch nicht genug? Mußt Du nun auch noch kommen und mich fragen, was ich mit ihm getan habe?«
»Ich begreife nicht, was Du mir vorzuwerfen hast,« antwortete die Israelitin. »Ich möchte ja nur erfahren, wo Du Deinen Meister gelassen hast.«
Als sie die Frage wiederholte, sprang der Mann auf und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
»Wehe Dir, daß Du mich nicht in Frieden sterben lassen willst!« rief er. Und indem er sich durch die Volksmenge Bahn brach, die sich vor dem Stadttor zusammendrängte, stürzte er, vor Entsetzen aufheulend, von dannen, und seine zerfetzten Gewänder umflatterten ihn wie dunkle Flügel.
»Mich dünkt es, daß wir zu einem Volk von Wahnwitzigen gekommen sind,« sagte Faustina, als sie den Mann entfliehen sah. Der Anblick dieser Jünger des Propheten hatte sie tief betrübt. Konnte ein Mann, der solche Wahnsinnigen in seiner Jüngerschar hatte, etwas für den Kaiser tun?
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